Die Verbannten

Aus den USA abgeschoben, landen die Emigranten wieder auf den Azoren – in einer feindseligen, fremden Heimat

Am Tag seiner Verbannung, als Bruno in Ponta Delgada landet, erwartet ihn sein Onkel mit einem zerknitterten Passbild in der Hand. Nach einer zaghaften Umarmung stehen sie sich ratlos gegenüber. "Hier ist Geld und eine Adresse, wo man dir hilft", sagt der Onkel auf Portugiesisch, und obwohl Bruno die Sprache nicht versteht, nimmt er die Scheine und den Wisch mit einem dankenden Lächeln entgegen. Der Onkel murmelt von Erledigungen und Regen, der bald kommt, und eilt davon. Bruno greift seine Sporttasche und tritt aus dem Flughafengebäude. Durch einen Riss in den niedrig dahinfliegenden Wolken sieht er die Stadt.

Zur Mittagsstunde, am Tag von Brunos Ankunft, döst Horace in dem Café im Zentrum von Ponta Delgada. Vor ihm steht ein Wasserglas mit Schnaps. Am Nachbartisch sitzt Lisa mit blauschwarzen Ringen unter den Augen. "Gib mir 'nen Weinbrand. Auf der Scheißinsel erfriert man ja von innen", sagt sie zur Kellnerin. Durch ihre Strumpfhose unter dem kurzen Rock ziehen sich Laufmaschen wie Spuren eines Kriechtiers. Als die Tür sich öffnet, blickt niemand auf. Niemand sieht, wie der Ammoniak und der jahrzehntealte Qualm der Filterlosen dem Neuankömmling Bruno das Wasser in die Augen treiben. Bruno erkennt Horace, er ruft seinen Namen.

Horace kneift die Augen zusammen, sieht auf, und die Blicke treffen sich. Dann gehen die beiden Männer aufeinander zu und umarmen sich. Lisa stolpert über einen Stuhl und umschließt das Paar mit ihren mageren Armen von hinten.

Drei Freunde aus Kindertagen. Sie sind die Kinder von ehemaligen Walfängern der Azoreninseln im Atlantik, und sie sollten es einmal besser haben. Per Schiff fuhren 5000 Azorianer in den fünfziger und sechziger Jahren nach Amerika, nachdem der Walfang auf ihren Inseln verboten worden war. Sie ließen sich in dem Städtchen Fall River in Massachusetts an der Nordostküste der Vereinigten Staaten nieder. Sie wählten sich einen Portugiesisch sprechenden Bürgermeister und nannten Amerika "die zehnte Azoreninsel". Die Männer schufteten in den Konservenfabriken, ihre Kinder gingen auf die amerikanischen Schulen und verlernten die Sprache ihrer Eltern.

Der Wohlstand macht einen Bogen um Fall River. Die lodernden Herbstfarben von Neuengland können die Stadt nicht schminken, weil die Wälder für den Schiffbau abgeholzt wurden. In den Vorstädten stehen Tankstellen und Fast-Food-Restaurants neben von Maschendraht umzäunten Häuschen mit farblosen Kiefernholzfassaden. Die Innenstadt wirkt menschenleer. In der 9th Street, in der die Holzkirche mit dem portugiesischen Willkommensgruß über der Tür steht, ließen sich die Einwanderer nieder. Viele der Kinder griffen zum Alkohol und später zu Marihuana, Kokain und Heroin. Um an Geld zu kommen, überfielen sie Apotheken oder Tankstellen.

400 junge Menschen wurden in den vergangenen fünf Jahren nach Verbüßen ihrer Gefängnisstrafen auf die Azoren zwangsdeportiert, weil ihre Eltern es versäumt hatten, rechtzeitig Amerikaner aus ihnen zu machen, und weil 1996 ein Gesetz verabschiedet worden war, demnach straffällig gewordene Nichtamerikaner nach Ende des Vollzugs dahin geschickt werden, wo sie geboren wurden. Selbst dann, wenn die Tat zehn oder mehr Jahre zurückliegt.

"Wir haben uns und unsere Kinder nicht zu Amerikanern gemacht, weil wir nichts zu tun haben wollten mit den Regierungsstellen. Wir waren gerade der Diktatur des Portugiesen Salazar entkommen und wollten nur in Frieden leben. Es schien uns nur eine Formalität", sagt Horace' verwitwete Mutter Clarissa. Ihre beiden Söhne wurden auf die Azoren zurückgeschickt. Einer davon wurde erstochen. In Fall River heißt es, dass ihr zweiter Sohn Horace drauf und dran sei, sich zu Tode zu saufen.

Am ersten Montag eines jeden Monats geht die gebrechliche Frau mit anderen Müttern in Fall River auf die Straße. Sie tragen schwarze Kleider und über den Köpfen selbst gemalte Schilder. "Wie die traurigen Mütter und Witwen in Argentinien, die wissen wollten, was mit ihren verschwundenen Männern und Söhnen geschah. Wir wollen nur unsere Kinder zurück", sagt Horace' Mutter.

"Gut siehst du aus, Bruno, richtig gut", sagt Lisa, "nicht wahr, Horace?" Horace nickt. Bruno bemerkt dessen eingefallene Brust, die Akne im Gesicht und den prallen Trinkerbauch. Er schaut in den beinah zahnlosen Mund von Lisa, deren fröhliches Lachen von früher dahin ist. Es hat zu regnen begonnen. Ein windiger Regen, der sich gegen die Fenster wirft.


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mare No. 39

No. 39August / September 2003

Von Michael Saur und Bruce Gilden

Michael Saur, Jahrgang 1967, erfuhr von den Deportierten durch eine Cousine, die auf den Azoren eine Boutique betreibt. Er landete zeitgleich mit Bruno auf São Miguel und begleitete ihn eine Woche lang. Zum Abschied zeigte Bruno ihm seine jüngste Tätowierung: auf der Brust ein Herz für seine Mutter in Fall River.

Als Magnum-Fotograf Bruce Gilden, 1946 in New York geboren, neun Monate nach Saur auf die Azoren reiste, um die Deportierten zu fotografieren, waren Horace und Lisa tot. Horace war von einem Auto überfahren worden, Lisa an Aids gestorben. Den abgemagerten Bruno fand Gilden im Krankenhaus, wo er sich von einem Messerstich kurierte.

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Vita Michael Saur, Jahrgang 1967, erfuhr von den Deportierten durch eine Cousine, die auf den Azoren eine Boutique betreibt. Er landete zeitgleich mit Bruno auf São Miguel und begleitete ihn eine Woche lang. Zum Abschied zeigte Bruno ihm seine jüngste Tätowierung: auf der Brust ein Herz für seine Mutter in Fall River.

Als Magnum-Fotograf Bruce Gilden, 1946 in New York geboren, neun Monate nach Saur auf die Azoren reiste, um die Deportierten zu fotografieren, waren Horace und Lisa tot. Horace war von einem Auto überfahren worden, Lisa an Aids gestorben. Den abgemagerten Bruno fand Gilden im Krankenhaus, wo er sich von einem Messerstich kurierte.
Person Von Michael Saur und Bruce Gilden
Vita Michael Saur, Jahrgang 1967, erfuhr von den Deportierten durch eine Cousine, die auf den Azoren eine Boutique betreibt. Er landete zeitgleich mit Bruno auf São Miguel und begleitete ihn eine Woche lang. Zum Abschied zeigte Bruno ihm seine jüngste Tätowierung: auf der Brust ein Herz für seine Mutter in Fall River.

Als Magnum-Fotograf Bruce Gilden, 1946 in New York geboren, neun Monate nach Saur auf die Azoren reiste, um die Deportierten zu fotografieren, waren Horace und Lisa tot. Horace war von einem Auto überfahren worden, Lisa an Aids gestorben. Den abgemagerten Bruno fand Gilden im Krankenhaus, wo er sich von einem Messerstich kurierte.
Person Von Michael Saur und Bruce Gilden