Die Unerbittlichen

Jeden Winter blockiert Eis die Häfen der finnischen Küste. Eine Flotte von neun Eisbrechern hält dagegen

Ykspihlaja an der finnischen Nordwestküste der Bottnischen See. Industrieschlote dominieren den Hafen. Rauchschwaden in allen Farben, Abfallhalden, Güterzüge. Verladekräne heulen, Gabelstapler surren zwischen Bergen von Düngersäcken hin und her. An den Piers liegen wie fest gefroren einige Frachtschiffe. Der Schnee ist verrußt, das Meer zu Schollen geschichtet, grün schimmernd wie überdimensionale Glassplitter auf der Schutzmauer um ein verbotenes Gelände. Ohne Eisbrecher kommt hier keiner rein oder raus.

Ein Hydrokopter, Motorschlitten und sturmsicheres Boot in einem, bringt den Lotsen an der Leuchtturminsel Tankar vorbei zum Eisbrecher „Kontio“. Der Heckpropeller kann das Mehrzweckmobil auf blankem Eis mit einer Spitzengeschwindigkeit von mehr als 100 Kilometer pro Stunde vorantreiben. Doch mächtige Eisbrocken machen die weiße Wüste zum Waschbrett und den Hydrokopter zur Schnecke.

Am Horizont erscheint der Eisbrecher „Kontio“. Das Schiff ist auf den finnischen Urnamen des Bären getauft. Zehn Seemeilen außerhalb des Hafens will der Lotse an Bord. Ein heftiger Wind macht die Kälte von minus 20 Grad Celsius noch um einiges grimmiger. Wegen des geringen Salzgehalts erstarrt das Wasser im Bottnischen Meerbusen zu Eis, das kompakter als eine Backsteinmauer ist. Die „Kontio“ schiebt sich abseits einer schon bestehenden Rinne durch das halbmeterdicke Eis. Es knirscht und kracht, es kreischt und donnert.

Wo Schiff und Eis aufeinander treffen, haben die Schiffbauer eine rostfreie Legierung mit Dynamit in den Stahl des Rumpfes geschossen und blank geschliffen. Bug und Unterwasserschiff der „Kontio“ sind härter als das härteste Eis. Kein Kratzer lässt Reibung entstehen.

Das Schiff krängt, bäumt sich auf und fällt wieder aufs Eis hinab. Im Rumpf sind steuer- und backbords, achtern und vorne Tanks angebracht. Pumpen lassen das Wasser in weniger als einer Minute von einer Seite zur anderen strömen, per Gewichtsverlagerung knackt das Schiff die Eisdecke. Düsen unterhalb der Wasserlinie blasen die aufgebrochenen Schollen vom Schiffsrumpf weg. Plötzlich verstummt das markdurchdringende Geräusch des berstenden Eises. Der Kapitän hat die Motoren gestoppt. Die „Kontio“ parkt im Eis. Mit einem Teleskopkran wird der Lotse an Bord gehievt.

Knappe Begrüßung. Kommandos kommen ruhig daher. Ab und zu ein Lächeln. Lautes Lachen ist kaum zu hören. Das Wissen, die sensiblen Systeme des hochmodernen Schiffes allein nicht mehr beherrschen zu können, kittet die Crew zusammen. Doch von Romantik spricht niemand. Sie ist ohnehin verlogen gewesen, diese von an Land hockenden Dichtern heraufbeschworene Seefahrerromantik. „Die Lichter der Überwachungsgeräte auf der digitalen Brücke erinnern mich an die Glut erlöschender Johannisfeuer“, sagt der Kapitän dann doch.

25 Leute sind an Bord. Auch ein paar Frauen. In der bewegten Geschichte Finnlands waren seine Frauen früher als andere Frauen auf sich selbst angewiesen, wenn ihre Männer für die schwedischen oder russischen Machthaber in den Krieg zogen und in neuerer Zeit für die Unabhängigkeit kämpften. 20, 30 oder 40 Tage bleibt die Mannschaft an Bord. Für zwei Tage Dienst gibt es einen Tag Landurlaub.

Finnlands Küste friert Jahr für Jahr von Mitte November bis Ende April zu. Mehr als 80 Prozent des finnischen Außenhandels werden von der Schifffahrt auf einer Küstenlänge von 1500 Kilometern über 60 Häfen abgewickelt. 1990 transportierten 26000 Schiffe 140 Millionen Tonnen Fracht, im Jahr 2000 waren es 37000 Schiffe mit 227 Millionen Tonnen Fracht. 23 Häfen werden von der Eisbrecherflotte ganzjährig zugänglich gemacht.

Eine Statistik des Seefahrtsamts beweist, dass es nicht erst seit der vermuteten globalen Erwärmung milde Winter gibt. Fast jedes Jahrzehnt ist geprägt von großen Temperaturschwankungen. 1917 waren 400000 Quadratkilometer der Ostsee mit Eis bedeckt, 1918 nur 150000. Einer der strengsten Winter des Jahrhunderts war 1986/87, und mildere Temperaturen als im darauf folgenden Jahr wurden niemals aufgezeichnet.

Für eine Weile braucht kein Schiff die Hilfe der „Kontio“. In der Messe wird das Abendessen serviert. Um halb acht kommt die antretende, um acht die abtretende Wache. Zeit für ein Gespräch oder geselliges Zusammensein gibt es kaum. Das Schiff ist rund um die Uhr im Einsatz. Den ganzen Winter lang. Sechs Stunden Wache, sechs Stunden Ruhe, wieder sechs Stunden Arbeit, ein ewiger Zyklus. Dazu das ständige Rütteln und Rumpeln, das Knirschen des Eises, das Gepolter unter dem Rumpf, das Dröhnen der Maschinen. Nur wenig Schlaf ist möglich. Die Kalorien des guten Essens werden im Kraftraum und in der Sauna abgebaut. Das Fernsehen bringt Nachrichten. Vielleicht stellt sich die Lust auf einen Videofilm ein. Manche lesen. Der Schlafrhythmus ist nach einigen Jahren im winterlichen Eis nicht mehr zu ändern. Das Eis ist ihre Arbeit, ihr halbes Leben.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 32. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Von Heinz Stalder und Mark Power

Heinz Stalder, 1939 in Allenlüften bei Bern geboren, lebt als Schriftsteller und Journalist in London. Sein Bild von der harten Eisbrechercrew musste er korrigieren, als er beim Betreten des Schiffs dessen Kapitän in ausgetretenen Pantoffeln und alter Strickjacke sah.

Mark Power, Jahrgang 1960, ist an der Südküste Englands aufgewachsen und lebt heute als Fotograf in London. In mare No. 11 hat er zuletzt den Seewetterbericht ins Bild gesetzt.

Mehr Informationen
Vita Heinz Stalder, 1939 in Allenlüften bei Bern geboren, lebt als Schriftsteller und Journalist in London. Sein Bild von der harten Eisbrechercrew musste er korrigieren, als er beim Betreten des Schiffs dessen Kapitän in ausgetretenen Pantoffeln und alter Strickjacke sah.

Mark Power, Jahrgang 1960, ist an der Südküste Englands aufgewachsen und lebt heute als Fotograf in London. In mare No. 11 hat er zuletzt den Seewetterbericht ins Bild gesetzt.
Person Von Heinz Stalder und Mark Power
Vita Heinz Stalder, 1939 in Allenlüften bei Bern geboren, lebt als Schriftsteller und Journalist in London. Sein Bild von der harten Eisbrechercrew musste er korrigieren, als er beim Betreten des Schiffs dessen Kapitän in ausgetretenen Pantoffeln und alter Strickjacke sah.

Mark Power, Jahrgang 1960, ist an der Südküste Englands aufgewachsen und lebt heute als Fotograf in London. In mare No. 11 hat er zuletzt den Seewetterbericht ins Bild gesetzt.
Person Von Heinz Stalder und Mark Power