Die Tragödie einer Insel

Seit dem 16. Jahrhundert bestimmen koloniale Gewalt, Unterdrückung und die Befreiung davon die Geschicke des afrikanischen Inselstaats São Tomée Príncipe im Golf von Guinea. Mit einer einzigartigen Theaterkultur verarbeiten die Einwohner die Erfahrungen

In den Jahren 2019 und 2020 entstand auf São Tomé, einer kleinen Insel im Atlantik, die einst unter der Kolonialherrschaft der Portugiesen stand, meine fotografische Arbeit „Tragédia“. Sie zeigt eine Theatertradition, die es nur dort gibt. Jede Woche werden in den Städten und Dörfern, an den Küsten und an den Rändern des tropischen Walds, der einen Großteil der Insel bedeckt, gegenwärtige und vergangene Konflikte auf die Bühne gebracht. Das Spiel, die Tänze sind ein Abbild der Gesellschaft des zweitkleinsten Staats Afrikas, den seine Vergangenheit zum Vielvölkerstaat gemacht hat. „Tchiloli“ und „Danço Congo“ heißen seine wichtigsten Ausdrucksformen. „Tchiloli“ ist eine Art Straßentheater, es ist traditionell das Theater der „Forros“, der kreolischen Nachfahren europäischer Einwanderer und freigelassener afrikanischer Sklaven. „Danço Congo“ ist ein pantomimisches Tanztheater, es entstand im Geheimen, während der den Sklaven gewährten Feiertage. Sein Erbe wird von den „Angolares“ aufrechterhalten, den Abkömmlingen entflohener Sklaven, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts im Süden der Insel in Enklaven lebten.

Man kann diese bis heute lebendigen Theaterformen nur verstehen, wenn man ihre Herkunft kennt und die vielschichtigen afrikanischen, europäischen und kreolischen Einflüsse, die die Identität des Volks von São Tomé prägen. Die Geschichte der Insel ist eng mit der Europas verwoben und vom Kolonialismus geprägt. Vom 16. Jahrhundert an hat São Tomé die transatlantische Wirtschaft verändert. Dort wurde erstmals ein sozioökonomisches Modell etabliert, das die nächsten vier Jahrhunderte prägen sollte: die von Sklaven bewirtschaftete Zuckerrohrplantage. Die bereits bewohnte Insel, die 1471 von den Portugiesen „entdeckt“ worden war, diente als Laboratorium für den Betrieb von Großplantagen mit rassistisch-hierarchischer Struktur, deren Hauptarbeitskräfte afrikanische Sklaven waren. Die portugiesische Kolonialmacht exportierte die erprobte Systematik der menschenverachtenden Ausbeutung erfolgreich im großen Stil nach Brasilien. 

Auch nach der Abschaffung der Sklaverei 1876 blieb die Monokultur der Plantagen maßgeblicher Wirtschaftsfaktor der Insel. An die Stelle der Sklaven traten die „Serviçais“, landwirtschaftliche Vertragsarbeiter, die von den Kapverden, aus Angola und Mosambik auf die Insel kamen. Auf dem Papier „frei“, waren sie in Wirklichkeit einem Regime der Zwangsarbeit unterworfen, das sich kaum von der Sklavenhaltung unterschied. Diese Zustände beherrschten das Leben auf der Insel bis zur Erlangung der Unabhängigkeit und der Ausrufung der Republik 1975. 

Zurück blieb eine verarmte Bevölkerung in einer hierarchisierten Gesellschaft und eine Infrastruktur, die über Jahrhunderte hinweg allein auf den Betrieb der riesigen Plantagen, der Roças, ausgerichtet war. Der Kolonialismus hatte ein Kastensystem hinterlassen, in dem die Rechte des Einzelnen von seiner ethnischen Herkunft abhingen. Dementsprechend waren auch Lebensraum und Tätigkeit von der jeweiligen Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe bestimmt. Dieses System spiegelt sich noch heute auf der Insel wider: Die kreolischen Forros siedeln überwiegend in den Städten und bestimmen den Handel, die Angolares leben weitgehend an der Küste und fischen, während die Nachkommen der Serviçais, der Vertragsarbeiter, das Land bewirtschaften. Doch im Lauf der Jahrhunderte entstanden sowohl in der kreolischen und als auch in der afrikanischen Bevölkerung Riten und theatralische Inszenierungen, die sich gegen das herrschende System richteten. 

„Tchiloli“-Gruppen haben nur ein einziges Stück im Repertoire: die „Tragödie des Marquis von Mantua“. Der Überlieferung nach wurde es Mitte des 16. Jahrhunderts von Baltazar Dias, einem portugiesischen Dramatiker aus Madeira, niedergeschrieben. Es ist Teil seiner Bearbeitung spanischer „Romanceros“, Volksballaden, die ursprünglich der karolingischen Dichtung des elften Jahrhunderts entstammen.


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mare No. 148

mare No. 148Oktober / November 2021

Text und Fotos von Nicola Lo Calzo

Nicola Lo Calzo, geboren 1979 in Turin, arbeitet seit zehn Jahren weltweit an einem fotografischen Projekt über das Erbe der Sklaverei. Er lebt in Paris, unterrichtet an der dortigen Kunstakademie und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Seine Bilder erscheinen regelmäßig in Le Monde, The New Yorker und The New York Times.

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Vita Nicola Lo Calzo, geboren 1979 in Turin, arbeitet seit zehn Jahren weltweit an einem fotografischen Projekt über das Erbe der Sklaverei. Er lebt in Paris, unterrichtet an der dortigen Kunstakademie und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Seine Bilder erscheinen regelmäßig in Le Monde, The New Yorker und The New York Times.
Person Text und Fotos von Nicola Lo Calzo
Vita Nicola Lo Calzo, geboren 1979 in Turin, arbeitet seit zehn Jahren weltweit an einem fotografischen Projekt über das Erbe der Sklaverei. Er lebt in Paris, unterrichtet an der dortigen Kunstakademie und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Seine Bilder erscheinen regelmäßig in Le Monde, The New Yorker und The New York Times.
Person Text und Fotos von Nicola Lo Calzo