Die Todesflieger

Mit einem weiteren Prozess befreit sich Argentinien von den Traumata der Diktatur der Jahre 1976 bis 1983: Vor Gericht stehen Pilo­ten, ange­klagt der perfidesten Tötung von Regimegegnern: sie lebendig über offener See aus Flugzeugen geworfen zu haben

„Ihr sollt singen!“, schrie der Tiger. „Tanzen!“ Die Körper gehorchten, obwohl sie geschwächt waren von Folter und schlechtem Essen, die Knöchel durch die schweren Fußketten verletzt und geschwollen. Ihre Augen waren nicht mehr an Licht gewöhnt, denn die Kapuze, die ihnen nach der Entführung über den Kopf gezogen wurde, hatten sie permanent getragen. Viele hatten Wochen gelegen, Monate, in schmalen Boxen, ohne mit anderen Gefangenen sprechen zu dürfen. Die meisten oben auf dem Dachboden der Marineschule Esma, der Escuela Mécanica de la Armada, in Buenos Aires, die größte der Folterkammern der Militärjunta, die von 1976 bis 1983 das Schicksal Argentiniens bestimmte.

„Freut euch, es geht in den Süden“, sagte der Mann, den alle „den Tiger“ nannten. Er war der Chef der Einsatzgruppe; alle Entführer, Folterer, Mörder in der Esma hörten auf sein Kommando. Den Gefangenen sagte er, sie würden nach Patagonien in ein Lager verlegt, eine Impfung sollte es vorher geben. Bereitwillig ließen sie sich stechen, welche Wahl hatten sie auch? Wenig später wurden ihre Tanzbewegungen langsamer. Manche setzten sich, weil ihnen schwindelig war. Sie waren benebelt, kaum fähig, die wenigen Meter zum Transporter zu laufen, der sie zum Flughafen bringen würde. Ob die Gefangenen wussten, was ihnen bevorstand? Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Sie gehören zu den in der Diktatur „Verschwundenen“, Menschenrechtsorganisationen gehen von 30 000 Toten aus. Die meisten Leichen wurden nie gefunden.

Diese Geschichte erzählt nicht nur von einer brutalen Tötungsmaschinerie. Sie erzählt auch von einem Mörder, der das Schweigen nicht ertrug; von denen, die das Unrecht aufklären möchten: von Forensikern, die wie Detektive recherchieren, von einem Flugzeugmechaniker, der Unglaubliches hörte, von einem Staatsanwalt, der Puzzleteile zusammenfügt. Vor allem ist sie die Geschichte der Opfer. Dazu zählen auch die Kinder der Ermordeten, die ihren Eltern geraubt wurden und unter falscher Identität aufwuchsen. Und dazu zählen die Exhäftlinge, die vor Gericht in der „Megacausa Esma“ als Zeugen aussagen. Das Verfahren in Buenos Aires ist der größte Prozess gegen Diktaturverbrechen, der bisher in Argentinien stattgefunden hat: 68 Angeklagte, 900 Zeugen, 800 Opfer. Mindestens zwei Jahre wird das Verfahren dauern. Es geht um Folter, Mord, Zwangsarbeit.

Es ist eine Prozession des Schreckens am 28. November 2012, am ersten Tag des Esma-Prozesses: Die Angeklagten betreten den Saal, ein junger Polizist hält den Schlüssel in der rechten Hand und sammelt die Handschellen auf dem linken Arm. Die Angeklagten stehen Schlange, irgendwann weiß der Uniformierte nicht mehr, wohin mit den ganzen Handschellen, sucht Hilfe bei einem Kollegen. Währenddessen setzen sich die Angeklagten, die meisten tragen Anzüge, auf die gepolsterten Stühle im Gerichtssaal. Jorge Acosta, „der Tiger“. Alfredo Astiz, „der blonde Todesengel“. Es ist ein Who’s who der Repression. Allein die Verlesung der Anklage dauert mehrere Tage.

Zum ersten Mal sind auch Piloten angeklagt, die zur Zeit der Diktatur Militärflugzeuge lenkten. Bis vor Kurzem führten sie, wie viele andere ehemalige Uniformierte in Argentinien, ein normales Leben, unbehelligt von der Vergangenheit. Denn erst 2003 wurden unter der Regierung Néstor Kirchner die Amnestiegesetze annulliert, die Diktaturverbrechern Straflosigkeit zugesichert hatten.

Vom Prozessauftakt hört Ricardo Coquet nur die Berichte seiner Tochter, die im Publikum sitzt. Er selbst, 57 Jahre, Jeans und Blazer, wettergegerbt, die dunklen Haare im Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden, macht lieber Yoga am Flussufer. Mehr als eine Stunde tuckert die Fähre durch das Inselgewirr des Paranádeltas, bevor sie am Steg bei Ricardo anlegt. „Der Fluss ist magisch, er heilt. Und er verbindet mich mit meinen compañeros.“ Es ist Sonntag, aber das ist hier, tief im Insellabyrinth, nicht so wichtig. Er sitzt in Jeans und T-Shirt auf der Veranda seines Holzhäuschens, das auf meterhohen Pfählen steht.

„Wir wussten, dass sie uns foltern würden, um Informationen zu bekommen. Aber was für ein perfides System sie sich ausgedacht hatten, das haben wir nur langsam verstanden“, sagt Coquet. Auch er lag Monate oben auf dem Dachboden der Esma, mit einer Kanonenkugel an den Füßen, einer Kapuze auf dem Kopf, verteidigte das wenige Brot gegen Ratten. In der Diktatur gab es mindestens 340 Geheimgefängnisse im ganzen Land. Allein in der Esma verschwanden 5000 Menschen.


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mare No. 97

No. 97April / Mai 2013

Von Karen Naundorf und João Pina

Karen Naundorf, Jahrgang 1975, ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks in Südamerika. Sie hat schon viele Opfer der letzten Militärdiktatur in Argentinien getroffen und über deren grausame Schicksale berichtet. Doch die Systematik der Todesflüge ist auch für sie ein Gipfel der Bestialität.

João Pina, 1980 in Lissabon geboren, dokumentiert seit vielen Jahren die Spuren der Militärdiktaturen in Südamerika mit seinem Fotoprojekt Schatten des Condors.

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Vita Karen Naundorf, Jahrgang 1975, ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks in Südamerika. Sie hat schon viele Opfer der letzten Militärdiktatur in Argentinien getroffen und über deren grausame Schicksale berichtet. Doch die Systematik der Todesflüge ist auch für sie ein Gipfel der Bestialität.

João Pina, 1980 in Lissabon geboren, dokumentiert seit vielen Jahren die Spuren der Militärdiktaturen in Südamerika mit seinem Fotoprojekt Schatten des Condors.
Person Von Karen Naundorf und João Pina
Vita Karen Naundorf, Jahrgang 1975, ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks in Südamerika. Sie hat schon viele Opfer der letzten Militärdiktatur in Argentinien getroffen und über deren grausame Schicksale berichtet. Doch die Systematik der Todesflüge ist auch für sie ein Gipfel der Bestialität.

João Pina, 1980 in Lissabon geboren, dokumentiert seit vielen Jahren die Spuren der Militärdiktaturen in Südamerika mit seinem Fotoprojekt Schatten des Condors.
Person Von Karen Naundorf und João Pina