Die Strandgutachter

Schatz kommt von schätzen. Ein Beachcomber jedenfalls erkennt einen Wert auch im Treibgut, das die See bringt

An einem Windstillen, sonnigen Nachmittag Ende Oktober 2002 findet Jane Darke den Schatz der Schätze. Sie sucht mit ihrem Mann Nick am Strand der Porthcothan Bay an der Nordküste Cornwalls den Spülsaum der Morgenflut ab, als ihr ein kleines, dunkelbraunes Etwas ins Auge sticht. Es sieht aus wie eine platt gedrückte Kastanie. Aufgeregt ruft sie Nick, ein Blick und er jubelt: „Es ist der Samen einer Black Mucuna!“ Die Liane Mucuna holtonii, erzählt Nick, wächst in Mittelamerika, bei starken Regenfällen werden ihre Samen vom Boden des Regenwaldes ins Meer gespült. Und jetzt ist ein Exemplar ausgerechnet hier gestrandet, über 7000 Kilometer entfernt.

Zwei Wochen später steht Nick Darke auf dem Ausguck seines Hauses Glencoe Lodge mit Blick auf die Porthcothan Bay. 54 Jahre alt, in abgetragenen Hosen, dickem Pullover, Gummistiefeln. Kurzes, krauses Haar wächst ihm in die Stirn.

Er schaut hinaus in die Bucht, liest wie jeden Tag gleich nach dem Aufstehen das Meer wie andere Leute ihre Zeitung. Schließlich ist er Nachfahre der kornischen Wrecker, der Strandräuber, die jedes Schiff plünderten, das hier auflief, und es waren derer viele. Die englischen Herren, erzählt der Mann, ließen die Menschen in Armut leben, seit König Edward III. im Jahr 1337 seinem Sohn Ed- ward, dem Schwarzen Prinzen, eine ganze Nation mit eigener Sprache und eigenem Parlament übereignete, das Duchy of Cornwall. Seither ist der jeweils älteste Sohn der Monarchen der Duke of Cornwall, zurzeit also der arme Charles. Er verpachtet heute noch die Strände und alles, was auf ihnen liegen bleibt, an die Seegemeinden. Würde der Duke nur einmal sein Treibgut ernten, er würde seinen Reichtum verdoppeln, sagt Nick.

Die Bewohner Cornwalls wurden harte Menschen im Lauf der Jahrhunderte, und der Gedanke an die Unabhängigkeit lässt sie seither nicht mehr los. Die Herrscher in Westminster konnten ihnen fast alles nehmen, aber nicht ihre Verbundenheit mit der See. Aus der Not wurde ein einzigartiges Improvisationstalent geboren, die Fähigkeit, aus allem, was sie fanden, etwas zu machen.

Sie gingen an den Strand, jeden Tag, und bedienten sich von dem, was das Meer irgendwo genommen hatte und hier wieder von sich gab. Am begehrtesten war das Holz, denn an der Nordküste wächst seit Jahrhunderten kein Wald. Nicks Großvater war ein passionierter Strandräuber, Nicks Vater tat es ihm gleich. Der Großvater segelte die meiste Zeit als Kapitän um die Welt, der Vater beschloss nach seiner ersten großen Fahrt, doch lieber Farmer zu werden. Er besaß aber auch einen Anteil an einem Netz. Im September, wenn die Ernte eingefahren war, ging er mit fünf weiteren Freunden los, um Wolfsbarsch und Meeräsche zu fangen.

Nick wurde Schauspieler, Theaterautor, ein erfolgreicher, seine Stücke handeln nicht selten von Fischern, Farmern, Buchten und Netzen. Nick ist nebenbei selbst Fischer, er besitzt ein seegängiges Ruderboot – das erste bekam er mit zehn – und ein Netz, das er durch die Bucht von Porthcothan zieht, wann immer er Lust hat. Die Kühltruhe ist jedenfalls voll, die Autarkie ein Stück mehr gesichert.

Vor allem aber ist Nick ein kornischer Rebell, und was wäre besser geeignet, die Revolution vorzubereiten, als so zu leben wie die stolzen, sturen Vorfahren: wild, frei, im Einklang mit der See, die sie so reich beschenkt. Er ist einer der letzten Bewahrer der reichen Küstenkultur, ist von einem Menschenschlag, der seit 4000 Jahren hier siedelt. Der fischte, jagte und von der Bronzezeit bis weit ins 20. Jahrhundert die Kupfer- und Zinnvorkommen dieser Gegend ausbeutete, bis alle Profite nach England gingen. Weit und breit gibt es keinen mehr an der vom Nordostatlantikstrom beschenkten Nordküste, der derart konsequent den Strand absucht nach allem, was ihm irgendwie nutzvoll erscheint. Keinen mehr, der auch noch Hummer in die Falle lockt und Königskrabben, der Herzmuscheln sammelt und jeden Felsen, jeden Stein, jeden Hügel mit seinem alten Namen anspricht.

Nick ist kein wilder Strandräuber mehr. Die Zeiten haben sich geändert, die Gesetze auch. Nick, der Nachfahre, ist jetzt ein Beachcomber; einer, der den Strand nach angeschwemmtem Treibgut absucht. Er ist hier König, er wird es bleiben, selbst wenn der Adel einmal abgeschafft werden sollte.

Von ihm aus könnten die Engländer sowieso einpacken, die Laura-Ashley-Tapeten zum schönen Landleben zählen. Und die zum Saisonende tote, kleine Orte hinterlassen, die erst im nächsten Sommer wieder erwachen, in einen touristischen Albtraum, der leider Wirklichkeit ist.

Wenn die Fremden endlich weg sind, ist wieder Platz für die Landsleute, die vor Arbeitslosigkeit und exorbitanten Immobilienpreisen flüchten mussten, weg von der Küste, hinein ins Feindesland. Denn zurzeit sind die Leute Cornwalls eine Minderheit im Land, mit eigener keltischer Sprache, eigener Flagge und ewig glimmendem Nationalbewusstsein. Nick schaut vom Ausguck auf die Ferienhäuser der englischen Mittelklasse und sagt: „Wenn ich 80 bin, dann jage ich sie in die Luft.“


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mare No. 36

No. 36Februar / März 2003

Von Andreas Beerlage und Matthew Hawkins

Der Autor Andreas Beerlage, Jahrgang 1965, ist freier Journalist in Hamburg. Auch er wurde an Cornwalls Stränden fündig. Eine wie ein Ring geformte Muschel steckt nun an der Hand seiner Freundin und ein Tele-Tubbie-Sandförmchen in der Spielkiste seiner Tochter.

Der Londoner Fotograf Matthew Hawkins, geboren 1964, genoss ein ungewohnt freundliches Entgegenkommen der Engländern ansonsten eher argwöhnisch begegnenden Cornish People. Das, glaubt er, lag wohl an den vielen Namensvettern in Cornwall.

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Vita Der Autor Andreas Beerlage, Jahrgang 1965, ist freier Journalist in Hamburg. Auch er wurde an Cornwalls Stränden fündig. Eine wie ein Ring geformte Muschel steckt nun an der Hand seiner Freundin und ein Tele-Tubbie-Sandförmchen in der Spielkiste seiner Tochter.

Der Londoner Fotograf Matthew Hawkins, geboren 1964, genoss ein ungewohnt freundliches Entgegenkommen der Engländern ansonsten eher argwöhnisch begegnenden Cornish People. Das, glaubt er, lag wohl an den vielen Namensvettern in Cornwall.
Person Von Andreas Beerlage und Matthew Hawkins
Vita Der Autor Andreas Beerlage, Jahrgang 1965, ist freier Journalist in Hamburg. Auch er wurde an Cornwalls Stränden fündig. Eine wie ein Ring geformte Muschel steckt nun an der Hand seiner Freundin und ein Tele-Tubbie-Sandförmchen in der Spielkiste seiner Tochter.

Der Londoner Fotograf Matthew Hawkins, geboren 1964, genoss ein ungewohnt freundliches Entgegenkommen der Engländern ansonsten eher argwöhnisch begegnenden Cornish People. Das, glaubt er, lag wohl an den vielen Namensvettern in Cornwall.
Person Von Andreas Beerlage und Matthew Hawkins