Die Strandburg

Ein Fischerdorf am Weißen Meer in Russlands Barentssee droht in den Sandmassen, die vom Strand her wehen, unterzugehen. Die Verbliebenen führen einen trotzigen Kampf ums Überleben, ohne Aussicht auf einen langfristigen Erfolg

Für Alexej Schischelow ist ein Leuchtturm mehr als ein Scheinwerfer bei Nacht. Er ist ein Sinnbild für die Zivilisation. Darum, sagt Alexej, hätten die Piloten des Zweiten Weltkriegs ihre Bomben auch nie auf Leuchttürme geworfen. „Nicht einmal die Nazis haben das getan“, sagt Alexej. Das hat ihm sein Großvater Pawel Alexandrowitsch erzählt, Alexej ist Leuchtturmwärter in dritter Generation. Leuchttürme gehören nicht dem Land und seinen Problemen. Sie gehören zum Meer.

Jetzt steht Alexej vor einem Fenster des Leuchtturms und kämpft mit einem Mann. Einen Steinwurf weit entfernt liegt das Schiff, das alle zwei Wochen den Ort versorgt. Möwen schreien, das Meer tobt.

Der Mann hält eine Kiste, er will sie hinauswerfen. „Stell sie ab!“, fordert Alexej. Der Mann grummelt, er lässt die Kiste zu Boden gleiten, es scheppert. „Scheiße“, sagt der Mann, „mach das Fenster auf, sie geht sowieso kaputt.“ Aber Alexej greift sich die Kiste, er steigt die Stufen hinab. Unten stellt er die Kiste ab, zwei andere Männer wuchten sie auf einen Hänger. Es scheppert wieder. „Die Linse ist im Arsch“, rufen sie lachend.

Die Linse war ein Geschenk der Norweger. Vor ein paar Jahren hatten sie mehrere Leuchttürme entlang der Küste des Weißen Meeres modernisiert. Sie haben die jahrzehntealten Akkus des Havariesystems ausgewechselt, aus denen bereits radioaktive Isotope leckten. Sie haben die Elektrik erneuert, ein 500 000 Rubel teures Sensorensystem für die Scheinwerfer eingebaut und die alte Glühbirne vorm Reflektor gegen eine 1000 Watt starke Minisonne getauscht. Auf die Linse war Alexej besonders stolz, sie kam aus Japan.

Das alles zählt nicht mehr. Der Hydrografische Dienst der Nördlichen Flotte, der Arbeitgeber des Leuchtturmwärters Alexej Schischelow, wird sämtliche Leuchttürme seiner Küste stilllegen. Längst führen Satelliten die Schiffe durch die Gewässer, niemand, hieß es, braucht noch Leuchttürme.

„Alle brauchen sie“, sagt Alexej, 45 Jahre. „Leuchttürme sind psychologisch wichtig. Die Norweger wussten das, sogar die Amis. Sie erhalten ihre Türme, indem sie daraus Hotels machen. Einzige Bedingung: Sie müssen funktionstüchtig bleiben. Sie sind wie beschützende Riesen, sie zeigen: Hier sind Menschen.“ Nicht nur die Schiffe, selbst die Nomaden in der Tundra orientierten sich an dem hoch aufragenden Trumm.

Der Leuchtturm, so hatten sie im Dorf geglaubt, würde das Letzte sein, was vom Dorf übrig bleibt.

Denn viel ist es nicht mehr. Das Dorf heißt Schoina und liegt rund 400 Kilometer Luftlinie nördlich von Archangelsk. Baumlose Tundra umgibt es und die kalten Wasser des Weißen Meeres. Bis vor einigen Jahren lebten hier noch 4000 Einwohner. Heute sind es gut 300. Es sind die Alten und die Kinder. „Und die Verwilderten“, sagt Alexej, der ganze Rest von Schoina. Jene, die woanders, in der „Zivilisation“, nicht mehr zurechtkommen würden.

Doch es sind die, zu denen Alexej jetzt unterwegs ist. Seine letzte Hoffnung. „Meine Armee“, sagt er. Er will sie mobilisieren, sie sollen sich gegen die „Hinrichtung“ seines Leuchtturms wehren. Noch in diesem Jahr soll es ein neues Wappen für den Ort geben. Mit allem, was das Dorf ausmacht: den Wildgänsen, die für die wunderbare Tundra stehen, und zwei Paddeln, die das Meer symbolisieren. Und eben mit dem Leuchtturm, der, so schlug der Bürgermeister vor, die aufrechten und standhaften Bewohner von Schoina darstellt.

An einem von ihnen geht Alexej jetzt vorbei. Grußlos, blicklos. Das, sagt er, ist üblich hier. So, wie man auch nie beim Nachbarn vorbeischaue, auf ein Tässchen Tee oder so. „Keiner guckt dir hier in die Augen“, sagt Alexejs 15-jähriger Sohn Mark. „Draußen spricht dich auch keiner an. Jeder ist für sich.“

Wer kann, der flieht. Er flieht nicht vor der Polarnacht, nicht vor dem Frost, der schon Ende August den Boden hart macht, das Brunnenwasser gefrieren lässt und den Kot in den Plumpsklos. Er flieht nicht vor den Konserven in Ljudmillas Laden und auch nicht vor dem ewig gleichen Brot aus der Bäckerei. Das alles ist „normalno“, das ist russische Provinz.

Er flieht vor dem Sand.

Der Sand ist überall. Er türmt sich vor den Häusern wie gigantische Schneewehen. In einer windigen Nacht kann eine Düne ein ganzes Haus verschlucken. Der Sand hat die Straßen unter sich begraben. Alexej versuchte im letzten Sommer, die Betonwege auszubuddeln, auf denen er als Kind spielte. Am Ende stand er bis zur Brust im Sand. Den Weg durchs Dorf sichern Stege aus Holz. Wer davon abkommt, findet sich vielleicht in der Wohnstube des Hauses Nr. 12 wieder. Oder in irgendeinem anderen des doppelten Dutzends verschütteter Häuser Schoinas. Der Sand legt sich locker übers Gebälk, über Brunnenlöcher, er deckt morsche Dachluken zu, aber er trägt nicht. Dem dicken Leonid ist es neulich passiert: Er brach durch, rutschte durch Sparren und Dielen und lag dann heulend vorm Ofen, Sand rieselte heraus.

Es ist ein feiner Sand. Alexej war einmal auf der Krim, er staunte über die groben Körner dort, die nichts bewegte. In Schoina aber wirbelt der Sand wie Staub, man kann ihn atmen. Er fliegt durch Jackennähte und durch die Ritzen der Häuser, mit Besen aus Gänsefedern fegen die Bewohner morgens kleine Sandhügel aus ihren Stuben. Falls sie vor die Tür kommen.

Bei Lena Kopyrina geht es nur noch mit Mühe. Und nur durch die Hintertür. Den Haupteingang hat sie aufgegeben. Sie hat sich dagegengeworfen, aber es ging nicht mehr. Kurz zuvor hatte ihr Sohn die Doppeltür noch einmal freigeschippt, es war das Geburtstagsgeschenk für seine Mutter. Ein paar Nächte später machte der Wind alles zunichte. Nur noch die Hintertür ist einigermaßen frei. Sie müssen bereits einen halben Meter hoch steigen, ehe sie herauskommen. Den unteren Teil blockiert schon der Sand.

Vor ihren Fenstern presst sich die Düne gegen Holz und Glas. Ein paar Schritte weiter steht schon der Leuchtturm, aber man sieht ihn nicht von hier aus. Dazwischen liegen noch drei Häuser unterm Sand, ein paar weitere sind es nach hinten heraus. „Wir sind von Häuserleichen umgeben“, sagt Lena. Nicht einmal das Dach ragt aus der Kuhle, in der sie mit ihrem Mann, dem Sohn, dem Baby und der Schwiegermutter wohnt. Vielleicht ist das gut so. Denn von hier, aus der Deckung, plant sie die „dritte Revolution“. Wahrscheinlich ist Alexej darum zuerst zu Lena gegangen. Die 32-Jährige, glaubt er, ist noch am ehesten aufzurütteln. Gegen die Willkür von oben, die seinen Leuchtturm liquidiert.

Lena ist Lehrerin, sie mag Puschkin, Bulgakow hält sie für überschätzt. Aber Dostojewski, den liebt sie. Darum auch darf Alexej letzten Endes keine Hilfe von ihr erwarten. Denn Dostojewski hat gesagt, Leiden reinige die Seele. Und sie leidet, das muss reichen. Seit Monaten arbeite sie, ohne Geld gesehen zu haben. Selbst jetzt, in den Ferien, bewacht sie die Schule, während ihre Direktorin sich am Schwarzen Meer räkelt. Ihr Mann heizt im Gemeindehaus. Aber es ist so, als verfeuere er auch sein Geld, es wird irgendwie immer weniger jeden Monat.

„O ja“, ruft Lena, „sie holen sich alles!“ Aber mehr „Politisches“ will sie nicht sagen. Denn „die da“, sie zeigt zum halben Himmel, „die haben ihre langen Arme nicht nur zum Stehlen, sondern auch zum Greifen“.


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mare No. 84

No. 84Februar / März 2011

Von Maik Brandenburg und Dmitrij Leltschuk

Maik Brandenburg, geboren 1962, war schon mehrmals für mare in Russland unterwegs. Zum ersten Mal jedoch konnte er eine echte Banja erleben, samt Holzofen, Reisig zum Abklatschen der Haut und dem obligatorischen Wodka hinterher. Bei Letzterem hielt er nicht so gut mit, aber drei heiße Saunagänge hintereinander waren kein Problem. Und bescherten ihm den Respekt der Russen samt der Frage: „Habt ihr so was in Deutschland etwa auch?“

Für den weißrussischen, in Hamburg lebenden Fotografen Dmitri Leltschuk, Jahrgang 1975, war es die erste Arbeit für mare. Stundenlang wartete er im Sandsturm auf den Dünen für ein gutes Bild, sich und die Ausrüstung dick verpackt. Dennoch knirschte es noch Wochen nach der Rückkehr zwischen seinen Zähnen. Und die Kameras mussten zur Totalreinigung in die Werkstatt.

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Vita Maik Brandenburg, geboren 1962, war schon mehrmals für mare in Russland unterwegs. Zum ersten Mal jedoch konnte er eine echte Banja erleben, samt Holzofen, Reisig zum Abklatschen der Haut und dem obligatorischen Wodka hinterher. Bei Letzterem hielt er nicht so gut mit, aber drei heiße Saunagänge hintereinander waren kein Problem. Und bescherten ihm den Respekt der Russen samt der Frage: „Habt ihr so was in Deutschland etwa auch?“

Für den weißrussischen, in Hamburg lebenden Fotografen Dmitri Leltschuk, Jahrgang 1975, war es die erste Arbeit für mare. Stundenlang wartete er im Sandsturm auf den Dünen für ein gutes Bild, sich und die Ausrüstung dick verpackt. Dennoch knirschte es noch Wochen nach der Rückkehr zwischen seinen Zähnen. Und die Kameras mussten zur Totalreinigung in die Werkstatt.
Person Von Maik Brandenburg und Dmitrij Leltschuk
Vita Maik Brandenburg, geboren 1962, war schon mehrmals für mare in Russland unterwegs. Zum ersten Mal jedoch konnte er eine echte Banja erleben, samt Holzofen, Reisig zum Abklatschen der Haut und dem obligatorischen Wodka hinterher. Bei Letzterem hielt er nicht so gut mit, aber drei heiße Saunagänge hintereinander waren kein Problem. Und bescherten ihm den Respekt der Russen samt der Frage: „Habt ihr so was in Deutschland etwa auch?“

Für den weißrussischen, in Hamburg lebenden Fotografen Dmitri Leltschuk, Jahrgang 1975, war es die erste Arbeit für mare. Stundenlang wartete er im Sandsturm auf den Dünen für ein gutes Bild, sich und die Ausrüstung dick verpackt. Dennoch knirschte es noch Wochen nach der Rückkehr zwischen seinen Zähnen. Und die Kameras mussten zur Totalreinigung in die Werkstatt.
Person Von Maik Brandenburg und Dmitrij Leltschuk