Die Strandboxer von Bukom

Ein ärmliches Fischerviertel in Accra ist ein Zentrum des Boxsports. Das gilt nicht nur für Afrika. Hunderte boxende Fischer bilden in den Hütten am Strand von Bukom den Kern einer Sportlerszene, die immer wieder Weltklasse­athleten hervorbringt

Das Mirakel lässt auf sich warten. Kurz nachdem die Sonne aufgegangen ist, haben die vier Männer vor der windschiefen Fischerhütte Stellung bezogen. Zwischen Bergen aus ausgedienten Netzen und Bojen sitzen sie auf Plastikstühlen, die notdürftig mit Klebeband zusammengehalten sind, essen Erdnüsse, malen mit ihren Zehen Muster in den staubigen Lehmboden und werden langsam ungeduldig. „Elizabeth, lass ihn gehen, dann bringen wir ihn dir als Champion zurück“, ruft einer. Die anderen lachen, fangen an zu klatschen und singen „Obodai, du bist der Messias“. Der Quirligste der Gruppe springt auf und macht aus dem Stand einen Flickflack. „Heute wird Jesus Wunder vollbringen!“ Endlich öffnet sich die Tür.

Die Gruppe erwartet ihren Helden, das Boxtalent Obodai Sai, genannt „The Miracle“. Sai trägt blaue Shorts, ein gelbes Baumwollshirt und muss erst einmal ein paar Ziegen vertreiben, die es sich auf der Schwelle gemütlich gemacht haben. Zur Begrüßung drückt er seine Faust gegen die der anderen. „Respect, brother“, murmelt er und tippt mit den Fingerspitzen auf sein Herz. Dann setzt sich der Trupp in Bewegung. Hinunter, Richtung Strand. Wer von den Männern Zeit hat, das heißt, wer am Morgen noch keinen Job für den Tag finden konnte, begleitet den 28-Jährigen zu seiner ersten Trainingseinheit am Meer. „Wir sind miteinander groß geworden. Wir sind Obodais Freunde und seine Fans“, erklärt Tobo, der Flickflackmann. „The Miracle“ joggt derweil am Leuchtturm und an der ehemaligen Sklavenburg James Fort vorbei bis zu den Sonnenschirmen am Hollywood Beach. 2011 gewann er den Commonwealth-Titel im Welter- gewicht im Kampf gegen einen Landsmann. „Ein Anfang“, sagt ein Fan. „Das hat viel Spaß, aber kein Geld gebracht. Obodai muss einen hochdotierten internationalen Titel gewinnen, dann sind wir alle Sieger.“

Zwei Stunden läuft Obodai Sai auf und ab. Hin zwei Kilometer über den festen Untergrund direkt am Wasser entlang, zurück durch den lockeren Sand etwas weiter oben am Strand. „Das gibt Extrakraft in den Unterschenkeln“, erklärt Tobo fachmännisch. Sein Handy klingelt. Der Bekannte eines Bekannten braucht Stacheldraht. Tobo weiß, wo er den besorgen kann, steht auf und geht.

Obodai Sai macht allein weiter. Nach dem Ausdauerlauf und 100 Push-ups streift er ein Seil um den Oberkörper. Als er losläuft, zieht es sich an der Hüfte zusammen – mit einem Ruck setzt sich der alte Autoreifen, der am anderen Ende befestigt ist, in Bewegung. Auf den ersten Metern ist die Übung noch leicht. Dann füllt sich der Reifen mit jedem Schritt mit Sand.

Die Trainingsbedingungen in Bukom, einem der ältesten Viertel von Ghanas Hauptstadt Accra, sind simpel. Es gibt kaum staatliche Unterstützung für den Sport, Sponsoren fehlen. Und doch leben nirgends sonst auf der Welt auf so kleinem Raum so viele hoffnungsvolle Boxer. Rund 500 hauptberufliche Boxer, schätzt Francis Decland von der Ghana Boxing Authority, wohnen in und um Bukom. Das quirlige Viertel hinter dem Hafen erstreckt sich über nicht viel mehr als 15 Straßen zwischen Slaha Market und High Street und ist Standort für rund 40 private Boxschulen. Nur fünf der „Gyms“ haben ein Dach, der Boden im Ring ist in der Regel aus Beton. Eine harte Schule.

Während in anderen Ländern in modernen Leistungszentren jede Faser eines Athleten unter ständiger Beobachtung steht, seine Blutwerte kontrolliert, die Belastbarkeit getestet, seine Diät optimiert und auch die Psyche von Fachleuten gestählt wird, sind die Boxer in Ghana auf sich gestellt. Was zählt, sind Talent und Disziplin, der Wille zum Sieg.

1951 gewann Roy Ankrah den British-Empire-Titel im Federgewicht und steht damit am Anfang einer langen Reihe ghanaischer Champions in den unteren Gewichtsklassen. Eine lebende Legende in Bukom ist Azumah „Zoom Zoom“ Nelson, der von 1984 bis 1997 den WBC-Weltmeistertitel hielt. 1996 und 1997 durften sich Ike Quartey, Alfred Kotey und Alex Baba in ihren jeweiligen Gewichtsklassen Champions nennen. Joshua Clottey gewann 2008 den IBF-Titel im Weltergewicht. Nachdem er im vergangenen Jahr gegen Clavin Green in den USA einen bedeutenden Kampf gewonnen hatte, säumten Tausende die Straßen vom Flughafen bis in die Stadt, um den Sportler zu bejubeln. Als der ehemalige Westafrikachampion Oblitey Commey vor drei Wochen beerdigt wurde, bettete man den 85-Jährigen in einen metallicroten Sarg in Form eines Boxhandschuhs.

„Wir essen, trinken, träumen Boxen. Bukom ist Boxen“, erklärt Decland, der Boxfunktionär. „Neun ehemalige Weltmeister kommen von hier. Der Sport ist die Chance für einen armen schwarzen Mann, ohne Schulbildung reich zu werden.“ Mit einem Kampf in den USA, in England oder Australien könne ein Boxer Millionen verdienen. „Boxen ist unser Stolz und unsere Hoffnung, wir sind einfach boxverrückt“, sagt er und reicht eine silbergrün schimmernde Visitenkarte über den Schreibtisch. Dort ist zu lesen, dass der 67-Jährige neben seiner Funktion im Boxverband auch noch im Schmuck- und Immobilienhandel tätig ist, dass er Know-how für Ölförderung sowie Elektrotechnik anbietet und sich ganz generell auf Export und Import versteht. Außerdem ist er, quasi nebenberuflich, Stammesoberhaupt einer 600 000-Einwohner-Stadt in der Voltaregion im Westen des Landes. Wenn Decland alle 14 Tage mit seinem polierten Mercedes, Baujahr 1999, sein kleines Königreich besucht, warten dort schon Hunderte Menschen auf ihn. „Die wollen nicht nur mal Hallo sagen oder einen weisen Rat von mir haben“, sagt der Chief, „vom Reden füllen sich die Bäuche nicht. Sie haben konkrete Anliegen. Es geht um Geld für Schuluniformen, für Medizin oder den Hausbau.“ 60 Prozent der Ghanaer sind Selbstversorger, arbeiten als Bauern oder Fischer. Zwar gehört das Land zu den wichtigsten Goldproduzenten der Welt, der Handel mit Diamanten floriert, und die Ölvorkommen vor der Küste sind groß, doch von dem Reichtum kommt bei der einfachen Bevölkerung wenig an. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, jedes fünfte Kind ist unterernährt.


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mare No. 96

No. 96Februar / März 2013

Von Gaby Herzog und Martin Steffen

Gaby Herzog, Jahrgang 1977, lebt als freie Reporterin in Berlin und ist in der ganzen Welt unterwegs. Als mitten im Interview mit Ike Quartey die Fischer im Hafen von Accra in Streit gerieten, freute sie sich, den mürrischen Champ an ihrer Seite zu haben. Der stellte sich nur einmal aufrecht hin – dann hatte sie ihre Ruhe.

Martin Steffen, Jahrgang 1967, lebt als Fotograf in Bochum. Sport und Soziales sind seine bevorzugten Themen. Hier in Ghana haben sich beide Sphären getroffen.

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Vita Gaby Herzog, Jahrgang 1977, lebt als freie Reporterin in Berlin und ist in der ganzen Welt unterwegs. Als mitten im Interview mit Ike Quartey die Fischer im Hafen von Accra in Streit gerieten, freute sie sich, den mürrischen Champ an ihrer Seite zu haben. Der stellte sich nur einmal aufrecht hin – dann hatte sie ihre Ruhe.

Martin Steffen, Jahrgang 1967, lebt als Fotograf in Bochum. Sport und Soziales sind seine bevorzugten Themen. Hier in Ghana haben sich beide Sphären getroffen.
Person Von Gaby Herzog und Martin Steffen
Vita Gaby Herzog, Jahrgang 1977, lebt als freie Reporterin in Berlin und ist in der ganzen Welt unterwegs. Als mitten im Interview mit Ike Quartey die Fischer im Hafen von Accra in Streit gerieten, freute sie sich, den mürrischen Champ an ihrer Seite zu haben. Der stellte sich nur einmal aufrecht hin – dann hatte sie ihre Ruhe.

Martin Steffen, Jahrgang 1967, lebt als Fotograf in Bochum. Sport und Soziales sind seine bevorzugten Themen. Hier in Ghana haben sich beide Sphären getroffen.
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