Die Sehnsucht nach dem Augenblick

Warten als Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft: Wie Angler die Zeit erleben

Angler schlagen nicht nur Fische tot, sondern auch Zeit. So sehen es die erklärten Nichtangler, die beim morgendlichen Strandlauf beobachtet haben, wie ein einsamer Angler auf einer Klippe sitzt und übers Meer hinausblickt. Beim mittäglichen Strandspaziergang sehen sie denselben Angler unverändert auf dem Fels. Unverändert. Weil Zeiterfahrung aber vor allem Erfahrung von Veränderung ist, schließen die Beobachter messerscharf: Da schlägt einer Zeit tot, wie langweilig.

Vielleicht ist das der Grund, warum Angler als Statisten in Kriminalgeschichten so beliebt sind. Die haben ja nichts Besseres zu tun, als in einsamen Meeresbuchten und an nebelgetränkten Schilfufern Mördern bei der Arbeit zuzusehen. Oder zumindest die Leiche aus dem Wasser zu ziehen statt des erwarteten Fisches. Das klingt dann immer mehr oder weniger wie in William Faulkners Erzählung „Hand auf den Wassern“: „,Er ist so groß wie ein Mensch!‘, schrie der Bursche.“ Und nach genüsslich ausgemalten Komplikationen, das Ding aus dem Wasser zu ziehen, das immer noch für einen Fisch gehalten wird, erscheint der Fang: „An der Leine hing Lonnie Grinnup.“

Angler fühlen sich durch die Unterstellung, sie langweilten sich, nicht geschmeichelt. Wen wundert das? Langeweile als Verfassung allgemeiner Unlust und Interesselosigkeit, in der einem die Zeit lang wird, ist eine unangenehme Empfindung. Warum sollten Angler vorsätzlich etwas Unangenehmes tun? Das Missverständnis liegt in der unterschiedlichen Beurteilung oberflächlicher Inaktivität. Neben der äußeren, vorgegebenen Zeit verläuft die innere, erlebte Zeit des Anglers beim Warten auf den Fisch. In uhrzeitfixierten Kulturen ist der Sinn für erlebte Zeit nicht sehr ausgeprägt. Dass Warten und „Nichtstun“ auch einen ganz anderen Stellenwert haben können, zeigt der Spruch eines Zen-Meisters namens Thich Nhat Hanh: „Statt zu sagen ‚Sitz nicht einfach nur da; tu irgendetwas‘, sollten wir das Gegenteil fordern: ‚Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da.‘“

Warten ist die Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft. Der spätantike Philosoph Augustinus bezeichnete es als die „Gegenwart der Zukunft“. Die Zeit des Wartens lässt sich auf so viele Arten füllen, wie es Angler gibt. Die Gedanken der einen mögen tief in der Erinnerung versinken wie die Schnur im Meer. Andere träumen vielleicht von einer herrlichen Zukunft, von einem prächtigen Fisch, von Rekorden. Wieder andere streben danach, sich ganz der Gegenwart zu überlassen, zum Beispiel in der Naturerfahrung. Friedrich Hölderlin hat in dem Gedicht „Mnemosyne“ dieser Haltung ein Bild gegeben: „Vorwärts aber und rückwärts wollen wir/Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie/ Auf schwankem Kahne der See.“

Und doch strömt unter der Oberfläche aller Anglergedanken die Sehnsucht nach dem Augenblick, da der Fisch beißt. Alle Sinne sind bereit. Der Blick sucht den Himmel ab nach Botschaft bringenden Vögeln, das Ohr hört das Sausen der Kurbel voraus, die Hand an der Rute ist auf Feinsensorik eingestellt.

Tritt der Augenblick endlich ein, wird klar: Das Warten des Anglers ist die Bereitschaft des Raubtieres zum Sprung, des Jägers zum Schuss. Der Umschlag ist schroff. Auf die friedliche gedehnte Zeit des Wartens folgt der Kampf, und das heißt Zeit im Stakkato, Gewalt, Fieber der Jagd.

Der Sieg des Menschen ist der Tod des Fisches. Niederlage bedeutet, die Zeit des Fisches läuft weiter. Dass der Kampf aber auch die existenzielle Erfahrung der eigenen Endlichkeit bewirken kann, zeigt der alte Fischer in Hemingways „Der alte Mann und das Meer“, der bereits seit einem Tag und einer Nacht mit einem mächtigen Marlin kämpft. „,Fisch‘, sagte er leise und vernehmlich, ,ich bleibe bei dir, bis ich tot bin.‘“

mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Von Judith Reker

Judith Reker studierte in England und Ägypten Arabistik, Judaistik und Geschichte. Nach längeren Aufenthalten in Kenia und der Republik Kongo lebt sie als freie Afrika-Korrespondentin in Johannesburg (Südafrika).

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Vita Judith Reker studierte in England und Ägypten Arabistik, Judaistik und Geschichte. Nach längeren Aufenthalten in Kenia und der Republik Kongo lebt sie als freie Afrika-Korrespondentin in Johannesburg (Südafrika).
Person Von Judith Reker
Vita Judith Reker studierte in England und Ägypten Arabistik, Judaistik und Geschichte. Nach längeren Aufenthalten in Kenia und der Republik Kongo lebt sie als freie Afrika-Korrespondentin in Johannesburg (Südafrika).
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