Die Piraten von Itapema

Wie sieht der Alltag eines brasilianischen Piraten aus? Eine Reportage

Die Brandung ist zu stark. Am Strand können sie nicht landen. Sie drehen wieder ab, weg vom Ufer; Mario* umschifft geschickt den Felsvorsprung, dann drosselt er den Außenborder, zwei Männer laufen die in den Stein geschlagenen Stufen hoch, und plötzlich stehen sie dreißig Meter vor uns, oben auf dem Felsen: zwei schmale Gestalten, 38er Colts im Gürtel, der eine in der Hand ein abgesägtes Gewehr. Die Gesichter mit Nylonstrümpfen maskiert, schauen sie zu uns herüber, und wir schauen zurück.

„Laßt das sein“, hatte der „Dicke Heinz“* mich immer wieder gewarnt: „Die nehmen das Geld, und irgendwann findet man deine Leiche im Wasser treibend.“ Und trotzdem war er es dann, der das Treffen mit den Piraten überhaupt möglich machte. Tagelang hatte ich beim Dicken gehockt, drüben in Rio do Meio*, wo der ehemalige Schiffszimmerer aus Hamburg eine kleine Reparaturwerft besitzt, und auf ihn eingeredet. Rio do Meio ist ein altes Fischernest aus zusammengenagelten Pfahlbauten mit Blick auf die Betonburgen, in denen auf der anderen Seite der Bucht von Santos Brasiliens Upperclass die Ferien verbringt. Wo, wenn nicht an diesem Ort, sollte man Schiffsräuber finden?

Eine armselige Ansammlung von Holzhütten – Heimat für menschliches Strandgut, wo die Kids die Schnüre ihrer Papierdrachen mit Glassplittern bestücken, um die Drachen der anderen „abzuschießen“. Krieg der Sterne auf brasilianisch.

Das Meer stinkt, und überall liegt Müll herum. Was keinen stört. Die Hunde dösen in der Mittagshitze, und Männer spielen Billard in den Bars – 43 Grad im Schatten.

An der Straßenecke parkt die Polícia Militar, die Arme lässig aus dem Fenster gelehnt. Hier passiert nichts; den Nachbar bestiehlt man nicht. Noch nie ist jemand in die Werft vom Dicken Heinz eingedrungen. Auch die Piraten nicht, die nachts auf die Bucht rausfahren zu den vor Anker liegenden Frachtschiffen, um die Container aufzuknacken: Fernseher und Funktelefone als Beute oder Fahrräder, mit denen die Kids von Rio do Meio, die dich gestern noch um einen Real angebettelt haben, heute über die ungepflasterten Wege brettern. Jeder hier weiß von den Überfällen, aber keiner redet darüber. Niemand will Ärger.

Eine Mauer aus Schweigen, bis der Dicke mir irgendwann Alemão vorstellt: „Ihm kannst Du vertrauen.“ Klischee eines Korsaren – ein Körper, der nur aus Muskeln besteht, blondes Haar, das auf vernarbte Schultern fällt, und ein trübes rechtes Auge, das in seiner Höhle hilflos herum irrt. Allein die schwarze Klappe fehlt.

In Wahrheit ist Alemão nur ein armer Kerl, dem ein Surfer das Brett ins Gesicht gerammt hat, dessen Mutter mit dem Kochwasser nicht umgehen konnte und der nun für zehn Reas am Tag dem Dicken hilft, Boote ins Wasser zu schleppen. Für 100 Dollar bringt er mich zu Mario, einem befreundeten Fischer. Und weil die meisten Fischer von Almosen leben, Mario aber Motorrad und Handy besitzt, ist sofort klar, daß Mario sein Geld nicht allein mit dem Fischernetz verdient. Ein Pirat ist auch er nicht, aber ein Schmuggler, der den Schiffsräubern dann und wann sein Boot zur Verfügung stellt. Für 100 Dollar arrangiert er ein Treffen: „Morgen um 14 Uhr, beim Anleger – dann nochmal 1200 Dollar für die Piraten!“

Paulo Dias ist ein massiger Mann in dunklem Anzug mit weinroter Krawatte, er sitzt an einem winzigen Schreibtisch, der mit Papier überladen ist. „Neun Fälle von Piraterie haben wir im letzten Jahr verzeichnet“, erklärt der Chef der Polícia Federal, der brasilianischen Bundespolizei, während er mit den Füßen wippt, die in feinen Lederslippern stecken. „Das ist natürlich bedauerlich, aber angesichts von 300 Schiffen, die Monat für Monat Santos anlaufen, soviel nun auch wieder nicht. Gerade mal achtzig Mann stehen mir zur Verfügung im Kampf gegen Zuhälter, Straßenräuber oder Piraten.“ Ein ziemlich hoffungsloses Unterfangen im größten Hafen von Südamerika.

„Gibt es keine Küstenwache?“
„Nein.“
„Und die Guardia Portuária?“
„Naja, das ist eigentlich nur ein Sicherheitsdienst der Hafengesellschaft. Die Polizeihoheit haben wir.“
„Fährt die Polícia Federal denn in der Bucht von Santos Patrouille?“
„Nein. Wir besitzen ja gar kein Boot. Und wir sind auch keine Seeleute.“
„Die deutsche Regierung hat Ihnen doch ein Schnellboot geliefert.“
„Das ist leider zur Zeit nicht einsatzbereit. Motorschaden. Ende des Monats soll es wieder fahren.“
„Und wo liegt das Boot jetzt?“
„In Guarujá.“
„Kann ich es sehen?“

Der Polizeichef greift zum Hörer eines Kombifaxgerätes, und kurz darauf steht Special Agent Paulo Cesar in der Tür. „Er wird Ihnen das Boot zeigen.“

Paulo Cesar sieht genau so aus, wie man sich einen Special Agent in Lateinamerika vorstellt: verspiegelte Sonnenbrille, verwaschene Jeans und ein buntes Polohemd. Sein Dienstwagen ist leider nur ein Fiat 1600, aber die Waffe unter dem Sitz eine 9 Millimeter Automatik von Smith & Wesson mit 17 Schuss im Magazin. Die hat Paulo selber bezahlt, genau wie sein Handy, das ständig klingelt. Die Handwerker! Er müsse noch kurz in seiner neuen Wohnung vorbeischauen. „Sonst werden die nie fertig.“

Nach ausgiebiger Besichtigung der Baustelle fahren wir mit einem Fährschiff rüber nach Guarujá, und Paulo erzählt von dem spektakulären Überfall vor ungefähr zwei Wochen auf einen Geldtransporter – hier auf der Fähre. Tagsüber.

Das Schiff befand sich von beiden Ufern genau gleich weit entfernt, als mehrere maskierte Männer auf das Dach des Transporters sprangen und mit Maschinenpistolen von oben ins Fahrerhaus schossen. „Weil da“, so Paulo, „das Blech dünner ist.“ Die Räuber kassierten 500000 Reas, fast eine Million Mark, und verschwanden in einem Speedboot, das kurz zuvor wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Keine Spur von den Banditen.

Dann stehen wir am Hafenbecken von Guarujá und blicken auf einen Kajütkreuzer aus Kunststoff, der traurig zwischen rostigen Schleppern und Barkassen im öligen Wasser vor sich hin dümpelt: Polícia Federal steht in Leuchtbuchstaben an dem knapp zwölf Meter langen Sportboot. Damit kann man vielleicht Piranhas fangen, aber keine Piraten. Naja. Wie Paulo erzählt, war es in Wahrheit ohnehin gerademal zwei Monate lang im Einsatz. Sechs Leute wurden von deutschen Beamten vier Wochen lang vor Ort angelernt. Drei davon verschwanden nach dem Training in anderen Landesteilen, zwei gehen zur Zeit Streife in der Altstadt, und einer steht vor mir: „Wie schnell ist denn das Boot?“ frage ich. Paulo hebt die Schultern: „Keine Ahnung, vielleicht zwanzig Knoten.“ Nein, ein Seemann ist Paulo Cesar nicht. Aber dafür kann er nichts. Die Polícia Federal hat zwar Special Agents, aber keine Special Departments. Jeder kümmert sich um alles: von Diebstahl- bis Drogenbekämpfung. Was Paulo gerade macht, will er nicht sagen, aber gerne würde er wieder mit dem deutschen Boot fahren – nur: Das funktioniert ja nicht.

„Und die Guardia Portuária, besitzt die denn ein fahrtüchtiges Schiff?“
„Keine Ahnung, aber ich bringe euch gerne hin.“ Brasilianische Freundlichkeit.


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mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Roland Brockmann und Tina Hager

Roland Brockmann, 36, lebt als freier Journalist in Berlin. In mare No. 4 veröffentlichten wir seine Reportage über das Leben eines philippinischen Seemanns an Bord des Containerfrachters „Libra New York“.

Die amerikanische Fotografin Tina Hager ist Mitglied der Fotoagentur Focus. In mare No. 2 druckten wir ihre Reportage über die letzten Perlentaucher im Südpazifik und in Heft No. 5 ihre Fotos über den Panamakanal.

Dank an Michael Rousseau, der das Team bei der nicht ungefährlichen Recherche tatkräftig unterstützte.

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Vita Roland Brockmann, 36, lebt als freier Journalist in Berlin. In mare No. 4 veröffentlichten wir seine Reportage über das Leben eines philippinischen Seemanns an Bord des Containerfrachters „Libra New York“.

Die amerikanische Fotografin Tina Hager ist Mitglied der Fotoagentur Focus. In mare No. 2 druckten wir ihre Reportage über die letzten Perlentaucher im Südpazifik und in Heft No. 5 ihre Fotos über den Panamakanal.

Dank an Michael Rousseau, der das Team bei der nicht ungefährlichen Recherche tatkräftig unterstützte.
Person Von Roland Brockmann und Tina Hager
Vita Roland Brockmann, 36, lebt als freier Journalist in Berlin. In mare No. 4 veröffentlichten wir seine Reportage über das Leben eines philippinischen Seemanns an Bord des Containerfrachters „Libra New York“.

Die amerikanische Fotografin Tina Hager ist Mitglied der Fotoagentur Focus. In mare No. 2 druckten wir ihre Reportage über die letzten Perlentaucher im Südpazifik und in Heft No. 5 ihre Fotos über den Panamakanal.

Dank an Michael Rousseau, der das Team bei der nicht ungefährlichen Recherche tatkräftig unterstützte.
Person Von Roland Brockmann und Tina Hager