Die Nacht Allahs

Über die Schwierigkeit, gleichzeitig das Feuer anzuschalten und zu beten. Zu Besuch in einem marokkanischen Turm

„Bei Allah, der Leuchturm begann plötzlich zu zittern. Genau 13 Minuten vor Mitternacht. Ich war oben, stand unter der sich drehenden Optik und wusste nicht wie mir geschah.“ Hassan Arsai, der alte Leuchtturmwärter, hebt die Hände gegen den Himmel, als würde er noch einmal um Schutz beten, als er sich an den kurzen Moment erinnert. „Dann schwappte das Quecksilber über, in dem die Optik läuft. Das silbrige Wasser fiel auf mich herunter, mir in die Ohren, in die Augen. Überall war das giftige Zeug!“

Vierzig Kilometer weiter nach Süden, die marokkanische Atlantikküste hinunter, damals eine lange Tagesreise mit dem Esel, wurde die Stadt Agadir fast vollständig zerstört. 15000 Tote waren unter den Trümmern begraben. Doch das starke Erdbeben von 1960 ließ den Leuchtturm am Kap Ghir unbeschädigt. Hassan musste nur zwei Liter Quecksilber nachfüllen, damit die Fresnel’sche Optik wieder wie vorgeschrieben auf 25 Liter schwimmend lagern konnte. Sie hatte sich weitergedreht. Das Licht war nicht ausgegangen. Hassan, heute 72 Jahre alt, blieb gesund, zeugte vierzehn Kinder und hat 67 Enkel.

Heute, nach seiner Zeit als Leuchtturmwärter, steht Hassan in seinem kleinen Krämerladen und bietet den Nachbarn Salz, Batterien, Bisquits, Bonbons und Couscous aus Marrakesch feil. Siebzig Menschen haben sich im Laufe der Zeit um „seinen“ Leuchtturm herum angesiedelt. „Der Tee ist bereit, kommt rüber!“, ruft Asma, seine kleine Enkelin.

Wir verlassen Hassans Laden. Es sind nur ein Paar Schritte bis zur lehmbraunen Mauer mit den Ecktürmen, die den Leuchtturm, die Nebengebäude und das Wohnhaus umgeben und schützen. Hier wohnt heute die achtköpfige Familie seines Sohnes Mohamed, seit 23 Jahren Leuchtturmwärter. Zwei andere Wärter, die zufällig auch Mohamed heißen, wechseln sich bei der Arbeit ab.

„Aber mein Vater ist der Chef, und wir sind immer da“, sagt Asma ernst und öffnet die kleine Tür, die sich innerhalb des großen blauen Tores befindet, das wie bei einem arabischen Palast oben mit einem mehrstufigen Sims abgeschlossen ist. Darauf ruhen grün glasierte Ziegel, wie auf den Dächern der Moscheen von Fes in Nordmarokko. Doch hier sind wir im Süden, im Gebiet der Berber. Sie haben arabische Stil-Elemente übernommen, halten aber am Prinzip des „Ksars“, einem befestigten Wohnhaus mit hohen Mauern, Türmen und Schießscharten, fest. Ein besonderes Haus ist es, in dem hier gewohnt wird: der „Phare du Cap Ghir“, wie seine französischen Erbauer den Leuchtturm nannten. Ghir, von Ighir, dem Ellbogen. Gemeint ist der westliche Ausläufer des Hohen Atlas. Eine Armbeuge, die in den windgepeitschten Atlantik ragt, der an Afrika leckt. Es ist ein wüstenhafter Landstrich, karg und steinig, Kakteenstummel und Staub, vom Starkwind „Cherki“ gestern hingetragen, heute wieder weggeblasen.

Die kleine Türe im Tor klappert im Wind. Der Schritt über die Schwelle ist wie ein Sprung in eine Oase: Bäume, Blumen, ein Ziehbrunnen und weiße Mauern, vor denen farbige Wäsche im Wind flattert. Im Garten des Hofes, unter dem Eukalyptusbaum, braten die Kinder über einem großen Feuer Tintenfische. Dann klauben sie Muscheln aus der Glut, brechen sie auf und essen den Inhalt heiß. Hinter der Küche steht im Freien ein Backofen aus Stein, fürs Brot. Hühner und Kaninchen rennen herum. Inmitten des Gartens und der symmetrisch angeordneten Gebäude steht der Leuchtturm.

Technik beim Tee

Asma führt mich ins Wohnzimmer, wo der Tee wartet. Ihr Vater Mohamed, Chef des Leuchtturms, sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Teppich. Neben ihm sitzen seine Freunde und stützen sich bequem auf Kissen ab. An der Wand hängt ein gerahmtes Bild des Vaters, da-runter sein verzierter Dolch, wie ihn die Berber gerne tragen. In der Ecke über der Kaminfeuerstelle prangt das Bild mit der höchsten Auflage im Land: König Hassan II. selig.

Mohamed schenkt den frischen Pfefferminztee ein und sagt lächelnd: „Unser Leuchtturm ist sehr schön und gibt uns gute Arbeit.“ In Betrieb ist er seit 1932. Die technische Ausrüstung, Baujahr 1926, haben die Franzosen, die damals Marokko als Protektorat „besaßen“, aus Paris hergebracht und installiert. Mohamed erklärt, wie das Leuchtfeuer damit bis vor wenigen Jahren funktionierte: „Das Gas, das den Brenner speiste, haben wir mit Benzin, Luft und Druck erzeugt. Zwei Druckbehälter, Handpumpe und Manometer, alles ist noch oben im Turm.“

Ständig mussten die Wärter den Gasdruck im Auge behalten und pumpen. „Fünf ist der Sollwert, eine arabische Glückszahl. Bei fünf brennt eine schöne weiße Flamme“, erzählt Mohamed. „26 Seemeilen weit sichtbar!“, ruft der alte Hassan stolz dazwischen. Der dreißig Meter hohe Turm steht auf einem mächtigen Felsplateau.

„Dann war von Zeit zu Zeit die Drahtseilwinde zu bedienen, eine harte Arbeit“, fährt Mohamed fort. Ein 150 Kilogramm schweres Gewicht an einem Drahtseil musste zwei oder drei Mal pro Nacht – je nachdem, wie lange sie dauerte – nach oben gekurbelt werden. Dann wanderte das Gewicht langsam im Schacht auf der Innenseite des runden Turmes wieder nach unten, und dadurch drehte sich die Fresnel’sche Optik um die Gasflamme.

Vor acht Jahren wurde die Gaseinrichtung abgehängt, ein Stromgenerator installiert und der Brenner beiseite gelegt, neben die Flaschen mit dem Glasputzmittel. Da liegt der Brenner noch heute. Jetzt ist der Leuchtturm mit einer Tausend-Watt-Birne und einem Motor für die Drehung der Optik ausgerüstet. Schmieröl ersetzt das Quecksilber. Seit zwei Jahren kommt die Energie sogar von vier Solarpaneelen auf dem Dach der Werkstatt – an 300 Sonnentagen im Jahr. Nur noch bei anhaltend bedecktem Himmel kommt der Generator zum Zug.

Seit 1932 hat sich an der Kennung des Leuchtfeuers nichts geändert: In zwanzig Sekunden dreht sich die vierteilige, symmetrische Fresnel’sche Optik einmal um sich selber. „Verstehst du, was das bedeutet?“, fragt der alte Hassan und gibt die Antwort gleich selber. „Vier satte Lichtstrahlen. Auf dem Meer siehst du aber nur ein weißes Licht, eine Sekunde lang, in jeder fünften Sekunde. Inschallah – so Gott will!“ Und er streckt die Arme horizontal aus und dreht sich an Ort und Stelle. Seine Djel-labah, ein dem Kaftan ähnliches Gewand, schwingt mit, und er strahlt. Alle lachen und jemand sagt: „Hassan, du hast ja nur zwei Lichtstrahlen, nur zwei Arme!“ „Ich weiß. Aber du hast keine Fantasie!“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 23. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 23

No. 23Dezember 2000 / Januar 2001

Von Daniel B. Peterlunger und Gueorgui Pinkhassov

Daniel B. Peterlunger, Jahrgang 1958, ist Hochseesegler und Journalist. Er lebt in Murten in der Schweiz. In mare erschien zuletzt sein Beitrag über die „Fliegenden Fischer“ von Bali (in No. 20).

Gueorgui Pinkhassov, Jahrgang 1952, arbeitete in Moskau als Kameramann und Filmfotograf, bevor er 1985 nach Paris übersiedelte. Dort ist er seit 1988 für die Fotoagentur Magnum tätig

Mehr Informationen
Vita Daniel B. Peterlunger, Jahrgang 1958, ist Hochseesegler und Journalist. Er lebt in Murten in der Schweiz. In mare erschien zuletzt sein Beitrag über die „Fliegenden Fischer“ von Bali (in No. 20).

Gueorgui Pinkhassov, Jahrgang 1952, arbeitete in Moskau als Kameramann und Filmfotograf, bevor er 1985 nach Paris übersiedelte. Dort ist er seit 1988 für die Fotoagentur Magnum tätig
Person Von Daniel B. Peterlunger und Gueorgui Pinkhassov
Vita Daniel B. Peterlunger, Jahrgang 1958, ist Hochseesegler und Journalist. Er lebt in Murten in der Schweiz. In mare erschien zuletzt sein Beitrag über die „Fliegenden Fischer“ von Bali (in No. 20).

Gueorgui Pinkhassov, Jahrgang 1952, arbeitete in Moskau als Kameramann und Filmfotograf, bevor er 1985 nach Paris übersiedelte. Dort ist er seit 1988 für die Fotoagentur Magnum tätig
Person Von Daniel B. Peterlunger und Gueorgui Pinkhassov