Die Million-Dollar-Nixe

Eine junge Australierin macht Anfang des 20. Jahrhunderts Furore: Sie schwimmt in Serie Weltrekorde, revolutioniert die Bademode und wird zum skandalumwitterten Varieté- und Filmstar

Der Skandal ist wohl geplant, und er erfüllt seinen Zweck. Sogar gründlicher, als Annette Kellermann es erwartet hatte. Die Badekleidung, in der die 20-jährige Australierin an einem Sommertag im Jahr 1907 am Strand von Revere bei Boston schwimmen gehen will, zeigt viel mehr von ihrem Körper, als die Polizei erlaubt: Statt eines mehrteiligen Strandkleids mit langem Rock und Strumpf­hose trägt sie einen engen Einteiler, wie Männer ihn zum Schwimmen benutzen. Ihre Beine sind von der Mitte der Oberschenkel an nackt. Ein Wachtmeis­ter nimmt sie wegen Exhibitionismus fest.

In den Wochen darauf verfolgen Zeitungen im ganzen Land den Prozess, in dem die Showschwimmerin Keller­mann ihr Verhalten rechtfer­tigt: „Wie unterscheiden sich die erlaubten Badekleider von Bleiketten? Frauen können nicht schwimmen lernen, wenn sie mehr Kleidung am Körper tragen, als auf eine Wäsche­leine passt“, sagt sie dem Richter. Dass diese Fähigkeit lebensrettend sein kann, wird jetzt immer mehr Amerikanern klar.

Erst drei Jahre zuvor waren in New York mehr als 1000 Passagiere des Ausflugsdampfers „General Slocum“ ertrunken, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. In ihrer Heimat, schreibt Kellermann später in ihrem Buch „How to Swim“, würden alle Kinder schwimmen lernen, ob Junge oder Mädchen. Der Richter lässt die Anklage gegen sie fallen und erklärt das Trikot für zulässig – mit einer Einschränkung: Die Beine ­dürften auch künftig nicht zu sehen sein, am Strand müsse ein Cape die Schultern bedecken. Der „Kellermann“, ein Damenbadeanzug mit Leggings und kurzem Rock, den die Angeklagte entwirft, wird zum Verkaufsschlager. Und Kellermanns Showkarriere geht jetzt richtig los.

Dabei hatte ihr Vater sie damals in Sydney zwingen müssen, ins Wasser zu gehen. Eine schreiende, strampelnde Sechsjährige hatte er zu einem kleinen Schwimmbad gebracht. Ein Mädchen mit panischer Angst vor dem Wasser, das viermal so viele ­Stunden brauchte wie seine Geschwister, erinnert sich Annette Kellermann später.

Trotzdem besteht Frederick Kellermann darauf, dass seine Tochter weiter übt, es ist seine letzte Hoffnung. Das Mädchen ­leidet an Rachitis, ihre deformierten Beine sind schmerzhaft in Stahlschienen eingezwängt. Laufen kann sie nur mit Mühe. Der dritte Arzt, den der Vater aufsuchte, hatte Schwimmen empfohlen, um ihre Muskulatur zu kräftigen. Es funktioniert. „Nur ein Krüppel kann mein Glücksgefühl nachempfinden, als ich merkte, dass meine Beine zunehmend normal aussahen“, schreibt sie.

Bald beherrscht Kellermann alle Stile, gewinnt mehrere Wettbewerbe und stellt 1902, mit 15 Jahren, sogar einen Welt­rekord im Frauenschwimmen auf: eine Meile in 32 Minuten und 29 Sekunden. Auch an gewagten Sprüngen versucht sie sich. „Sie war schnell und furchtlos“, erinnert sich Frank Baker, der mit seinem Bruder Snowy, dem späteren Trainer von Johnny Weissmüller und anderen Hollywoodstars, im selben Bad trainierte wie Kellermann. „Als sie das erste Mal versuchte, Snowys Sprünge zu kopieren, schlug sie hart auf dem Wasser auf und bekam kaum mehr Luft. Trotzdem kletterte sie sofort wieder die Leiter hoch.“ Sie lenkte niemals ein, sagt ihre Schwester Marcelle in Kellermanns Biografie „The Original Mil­lion Dollar Mermaid“. „Nichts und niemand zählte. Was zählte, war, dass sie die Erste und Beste war.“

Die Bewunderung, die Annette auf sich zieht, trägt bald zum Lebensunterhalt der Familie bei. Die Eltern müssen während der Wirtschaftskrise in den 1890er-Jahren ihre Musikschule in Sydney schließen. Die Mutter Alice, eine französische Pianistin, bekommt eine Stelle an einer Schule in Melbourne. Der Vater, ein aus Österreich stammender Violinist, radelt auf der Suche nach Arbeit durch die Stadt. Oft schaut er seiner Tochter im Schwimmbad zu, mit wachsendem Respekt. Madame Kellermann hält zunächst nichts davon, dass ihre Tochter halb nackt mit Männern um die Wette schwimmt. Sie ist entsetzt, als sie erfährt, dass Annette in einem Fischbecken des Melbourner Aquariums taucht. Doch die Leute sind begeistert von den Auftritten, und sie zahlen dafür. Ohnehin ist Annettes Lehrerin der Meinung, es wäre „für alle Beteiligten das Beste“, das aufrührerische Mädchen würde die Schule verlassen. Bald tritt Annette auch in anderen Städten auf. Doch Australien hat zu dieser Zeit gerade 3,8 Millionen Einwohner, gut ein Zehntel von Großbritannien. Noch mehr Geld, hofft ihr Vater, könnte sie als Schwimmerin in Europa verdienen. Dort zieht der junge Sport um die Jahrhundertwende Massen an.


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mare No. 146

mare No. 146Juni / Juli 2021

Von Silvia Tyburski

Silvia Tyburski,, Jahrgang 1976, Journalistin in Hamburg, möchte sich hiermit einmal bei allen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren für ihre Arbeit bedanken. Für diese Geschichte schickte ihr ein freundlicher Mensch von der Library of Congress in Washington, D. C., ein gebührenpflichtiges Buch von Annette Kellermann kostenlos zu mit den Worten: „Today is your lucky day!“

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Vita Silvia Tyburski,, Jahrgang 1976, Journalistin in Hamburg, möchte sich hiermit einmal bei allen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren für ihre Arbeit bedanken. Für diese Geschichte schickte ihr ein freundlicher Mensch von der Library of Congress in Washington, D. C., ein gebührenpflichtiges Buch von Annette Kellermann kostenlos zu mit den Worten: „Today is your lucky day!“
Person Von Silvia Tyburski
Vita Silvia Tyburski,, Jahrgang 1976, Journalistin in Hamburg, möchte sich hiermit einmal bei allen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren für ihre Arbeit bedanken. Für diese Geschichte schickte ihr ein freundlicher Mensch von der Library of Congress in Washington, D. C., ein gebührenpflichtiges Buch von Annette Kellermann kostenlos zu mit den Worten: „Today is your lucky day!“
Person Von Silvia Tyburski