Die Meuterei auf der „Potjomkin“

Was geschah tatsächlich auf dem Panzerkreuzer? Eine historische Nahaufnahme

Es begann mit den Maden. Hunderte weißer, schmieriger Maden fraßen sich durch stinkendes Fleisch, das für die Verpflegung der Soldaten und Matrosen des Panzerschiffes „Potjomkin“ im Schwarzen Meer bestimmt war. Die Mannschaft weigerte sich, der Kommandant ließ antreten, ein übereifriger Offizier drohte mit Erschießungen, aber zu spät – die Situation geriet binnen Sekunden aus dem Ruder. Eine halbe Stunde dauerte der Kampf, dann war das Schiff in der Hand der Meuterer.

Wer sich den Ereignissen auf dem Panzerschiff „Potjomkin“ im Juni 1905 nähert, steht vor einer Wand laufender Bilder. Da reden sich angeekelte Matrosen in Zorn, arrogante Offiziere grinsen in sich hinein, ein Matrose wird von einem Offizier erschossen, Kosaken treiben mit aufgesetztem Bajonett Demonstranten vor sich her, ein Kinderwagen rollt schutzlos die Richelieu-Treppe in Odessa hinunter, dann Schüsse, Schreie, Qualm und Chaos. Eisensteins bildgewaltiger Stummfilm „Panzerkreuzer Potjomkin“, einer der zehn besten Filme aller Zeiten, ist fast jedem bekannt. Solche Bilder schiebt man nicht zur Seite wie eine Gardine. Aber was liegt dahinter?

1905 war ein schweres Jahr für Russland. Im Januar streikten die Arbeiter in St. Petersburg, kurz darauf wurden Bittsteller vor dem Winterpalast zusammengeschossen, 500 Tote blieben auf den Straßen liegen. Massenstreiks, Aufstände im ganzen Land, Mord und Totschlag waren die Folge. Im Mai verlor Russland in der Schlacht von Tsushima gegen Japan 5000 Mann und über 20 Kriegsschiffe. Die Welle der Unzufriedenheit erreichte die Schwarzmeerküste im Sommer des Jahres. Matrosen planten eine Meuterei, man wartete auf den geeigneten Moment.

Am 25. Juni 1905 verließ die „Knjas Potjomkin Tawritscheski“ (Fürst Potjomkin von Taurien), nach der verlorenen Schlacht von Tsushima mit 12 700 Tonnen das kampfstärkste Schiff der russischen Kriegsflotte, den Hafen von Sewastopol, um in der Tendra-Bucht Schießübungen abzuhalten. An Bord des Panzerschiffes waren rund 670 Soldaten und Matrosen, ferner 18 Offiziere sowie Kommandant Golikow, Kapitän 1. Ranges. Am Morgen des 27. Juni entdeckten Matrosen auf dem Oberdeck an Haken hängendes Fleisch, das für ihre Verpflegung bestimmt war. Es stank penetrant und wimmelte vor Maden. Mit der ruhigen Stimmung auf dem Schiff war es auf einen Schlag vorbei.

Was in den folgenden Stunden geschah, könnte aus einem Lehrbuch der Eskalationstheorie stammen. Die Fehler, die der Führung des Schiffes unterliefen, waren haarsträubend. Fehler Nummer eins: Kommandant Golikow, von der Mannschaft als typischer Aristokrat eingestuft, verließ sich auf seinen Schiffsoberarzt Smirnow, der versicherte: „Das Fleisch ist gut! Man muss es nur mit Salzwasser abwaschen.“ Daraufhin geriet die Mannschaft in Zorn, so dass die sozialdemokratischen Soldaten an Bord fortan leichtes Spiel bei ihrer Agitation hatten. Fehler Nummer zwei: Golikow erkannte nicht den Ernst der Lage, als die Mannschaft mittags in der Messe den Borschtsch verweigerte, in dem das verfaulte Fleisch schwamm. Er ließ auf dem Achterdeck antreten und beging Fehler Nummer drei: Er drohte damit, die Aufsässigen an der Rahnock aufzuknüpfen. Fehler Nummer vier: Wer den Borschtsch essen wollte, musste vortreten, aber Golikow zeigte Ungeduld angesichts der letzten 20, 30 Unschlüssigen, die sich immer noch weigerten. Er gab ihnen zuwenig Zeit, trat ab und überließ das Feld seinem Ersten Offizier Giljarowski. Der war als Schleifer verhasst und beging Fehler Nummer fünf, der geradewegs in die Katastrophe führte. Giljarowski kommandierte die Wache herbei, zwölf Seesoldaten, die die Mannschaft mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett in Schach hielten, ließ die Borschtsch-Verweigerer an der Reling Aufstellung nehmen und befahl, dass man eine Persenning hole. Wozu eine Persenning?

Über die folgende Szene gehen die Aussagen der Überlebenden weit auseinander. In der russischen Kriegsflotte war es lange üblich, Verurteilte vor der Erschießung mit einem Segeltuch zu bedecken. Der Usus war zwar damals abgeschafft, doch langgediente Matrosen wussten Bescheid. Die überlebenden Offiziere stritten später die Existenz der Persenning entschieden ab, die Soldaten bestanden darauf. Im Eisenstein-Film wirkt das Segeltuch denn auch wie ein Katalysator: Angst kroch in den Soldaten hoch, dann brach die Wut aus. Wie dem auch gewesen sein mag – es steht fest, dass Giljarowski versuchte, die Mannschaft einzuschüchtern. Aber die Situation war bereits unrettbar verloren.

Torpedoquartiermeister Matjuschenko ging durch die Reihen nach vorn und ermahnte die Wache, nicht auf die Kameraden zu schießen. Unterdessen brach der Matrose Wakulentschuk in die Waffenkammer ein, kam mit einem Gewehr zurück und feuerte den ersten Schuss ab. Giljarowski schoss ihn sofort nieder. Matrosen drängten nach vorn, entrissen der Wache die Gewehre, Schüsse peitschten über das Deck. Matjuschenko packte ein Gewehr und erschoss Giljarowski. Dann begann das Massaker: Die Offiziere wurden aus ihren Kabinen geholt und wie die Hasen über das Schiff gejagt. Einige konnten über Bord springen und wurden im Wasser erschossen. Dem nur mit Hemd und Unterhose bekleideten Kommandanten schoss ein Matrose eiskalt in den Kopf und kippte die Leiche in die See. Nach einer halben Stunde Kampf waren sieben Offiziere getötet und über Bord geworfen worden, einziges Opfer der Meuterer war Wakulentschuk. Ein großer Teil der Mannschaft hatte sich an der Meuterei in keiner Weise beteiligt, es ging ihnen ja nur um das Essen.

Was tun nach einer Meuterei? Man schrubbt das Blut vom Deck, schafft Ordnung, stellt neue Befehlsstrukturen auf. Disziplin musste wieder her. Die Mannschaft wählte einen 25köpfigen Matrosenrat mit Matjuschenko an der Spitze und setzte einige Offiziere und mittlere Ränge ein, die das Schiff führen sollten. Zum Kapitän wurde Alexejew ernannt, Adjutant des ermordeten Kapitäns, der sich eilfertig auf die Seite der Meuterer geschlagen hatte. Man nahm Kurs auf Odessa.

In Odessa war es Anfang Juni zu heftigen Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Polizei mit zahlreichen Toten gekommen. Am 27. Juni wurden Streikende auf der Preobrashenski-Straße, dem „Champs-Elysées“ von Odessa, von Kosaken beschossen, es gab mehrere hundert Tote. Demonstranten errichteten Barrikaden aus umgeworfenen Straßenbahnen, Geschäfte und Privathäuser wurden geplündert. Daraufhin verhängte Kachanow, Kommandierender General des Odessaer Militärbezirks, den Belagerungszustand. Man erwartete einen Generalstreik, das Gerücht von der Beschießung der Stadt machte die Runde. Da ging in der Dämmerung des Sommerabends auf der äußeren Reede des Hafens ein großes Schlachtschiff vor Anker. Nur mit dem Fernglas hätte ein Beobachter erkennen können, dass an der Mastspitze nicht das Andreaskreuz gehisst war, sondern die rote Flagge. Es war die „Potjomkin“.

Am Morgen des 28. Juni brachte eine Abordnung der „Potjomkin“ den toten Wakulentschuk an Land und bahrte den Leichnam am Kai unter einem Zeltdach auf. Wie ein Magnet zog der Märtyrer die Bevölkerung an, darunter Sozialdemokraten, Menschewisten und Anarchisten, die zum bewaffneten Kampf aufriefen. Im Eisenstein-Film wird der tote Wakulentschuk zum auslösenden Moment der Solidarisierung zwischen Stadt und Schiff – die es in Wahrheit gar nicht gab. Gegen Mittag zogen Tausende Demonstranten vom Kai die Richelieu-Treppe hoch in Richtung Zentrum. Die „Potjomkin“ hatte ihnen neuen Mut gegeben.

Alarmiert durch das Auftauchen der „Potjomkin“ und beunruhigt durch die Menschenmassen am Sarg des Märtyrers, befahl General Kachanow einer Hundertschaft Kosaken, gegen die Arbeiter vorzugehen. Vom Domplatz kommend, trafen die Soldaten am oberen Ende der Richelieu-Treppe auf die Vorhut der Demonstranten. Was nun begann, lässt sich nur als Massaker beschreiben. Die Kosaken legten die Gewehre an und gaben eine Salve in die Menge ab, gingen vor und feuerten erneut, trampelten über die Leiber der Verwundeten und Toten hinab und schossen wieder. Niemand konnte zurück, denn von unten drängten andere nach. Nicht zuletzt diese Szene machte Eisensteins Film weltberühmt: hier die Front der weißgekleideten Kosaken, die wie eine rhythmisch arbeitende Maschine die Treppe hinuntermarschieren und allen den Tod bringen, dort Chaos und Geschrei, panische Flucht, das große Sterben, die tödlich getroffene Mutter, der abwärts rollende Kinderwagen. 240 Stufen ist die Treppe lang, und als die Kosaken unten ankamen, hatten etwa 500 Menschen den Tod gefunden.


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mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Henning Sietz

Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg, vorzugsweise über östliche Themen. In mare No. 6 schrieb er „Parteiarbeit im Packeis“.

Alle Fotos (Ausnahme: S. 96) sind historische Original-Aufnahmen aus der im Artikel beschriebenen Zeit.

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Vita Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg, vorzugsweise über östliche Themen. In mare No. 6 schrieb er „Parteiarbeit im Packeis“.

Alle Fotos (Ausnahme: S. 96) sind historische Original-Aufnahmen aus der im Artikel beschriebenen Zeit.
Person Von Henning Sietz
Vita Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg, vorzugsweise über östliche Themen. In mare No. 6 schrieb er „Parteiarbeit im Packeis“.

Alle Fotos (Ausnahme: S. 96) sind historische Original-Aufnahmen aus der im Artikel beschriebenen Zeit.
Person Von Henning Sietz