Die Magie der Ödnis

Eine wüste Stelle im ewigen Eis, ein geografischer Punkt ohne besondere landschaftliche Merkmale – und doch ein umkämpfter, ein mythischer Ort. Wie nur wenige weiße Flecken auf der Welt war der Nordpol das Ziel von Entdeckern, Hasardeuren und Abenteurern

Der Nordpol. Unendliche Weiten aus Eis. Entfernung bis zum Meeresboden des Arktischen Ozeans: mehr als 4000 Meter. Das nächstgelegene Festland: die 700 Kilometer entfernte Kaffeklubben-Insel vor der Nordküste Grönlands. Ohne Halt und Anker driftet das mehrere Meter dicke Eis des offenen Polarmeers auf dem Wasser, ein Spielball von Winden und Meeresströmungen, die es mit einer Geschwindigkeit von bis zu zwölf Kilometern am Tag vor sich herschieben. Und das nicht immer in die Richtung, die sich schiffbrüchige Polarforscher für ihre Rettung wünschen, wie George DeLong schmerzlich feststellen musste.

Dabei war der Kommandant der USS „Jeannette“ mit dem Phänomen der Eisdrift an sich bestens vertraut. Der Dampfsegler hatte, nachdem er kurz hinter der Beringstraße ins Packeis geraten war, in 21 Monaten Gefangenschaft eine Driftreise von mehr als 1100 Kilometern in Richtung Nordwest hinter sich gebracht, bevor er am 13. Juni 1881 zwischen zwei Eisschollen zerquetscht wurde. Die Besatzung machte sich mit Schlitten und drei schweren Rettungsbooten auf den Weg gen Süden, wie Kinder auf einer Rolltreppe gegen die erratische, meist aber nordwärts gerichtete Drift des Eises ankämpfend.

Bei jedem Normalsterblichen würde die Erkenntnis, eine ganze Woche lang keinen Meter vorangekommen zu sein, Emotionen auslösen, denen die Adjektive „nachdenklich“ und „nervös“, wie DeLong es in seinem Logbuch formulierte, kaum gerecht werden. Aber dem Normalsterblichen drängt sich ohnehin die Frage auf: Was um alles in der Welt wollten DeLong und all die anderen vor und nach ihm nur am Nordpol?

Zugegeben, etwas Faszinierendes hat dieser Ort auf 90 Grad nördlicher Breite schon: Die ganze Erde dreht sich um ihn, der Wind bläst immer aus Süden, und es gibt keine Uhrzeit – oder alle Uhrzeiten zugleich. In der Praxis aber ist es kaum möglich, diesen Punkt mit letzter Genauigkeit zu bestimmen. Und anders als ein Berggipfel bietet der Nordpol dem Entdecker auch nicht viel mehr als solche abstrakten Werte – außer endlosem Eis und Temperaturen zwischen minus 50 und null Grad Celsius.

Andererseits ist ein solch blanker, unerreichbarer Ort auch besonders gut für Projektionen der Fantasie geeignet. Mal vermutete man dort das glückliche Reich der Hyperboräer, mal einen riesigen Magnetberg, der zu nahe kommende Schiffe unausweichlich ins Verderben zieht, mal ein gewaltiges Loch, aus dem die Nordlichter strömen und über das man ins Innere der hohlen Erde vordringen kann – eine Idee, die auf den Astronomen Edmond Halley zurückgeht, von Jules Verne aufgegriffen wurde und noch heute Anhänger hat. In Mary Shelleys Buch „Frankenstein“ von 1818 zieht sich der Unhold zum Nordpol zurück, um sich so weit wie möglich von der Menschheit zu entfernen.

Angefangen beim alten Griechen Pytheas, der vermutlich als erster Südeuropäer das „geronnene Meer“ des hohen Nordens erblickte, galten Ehrgeiz und Todesmut der frühen arktischen Entdecker nicht dem Pol, sondern ganz weltlichen Dingen wie der Entdeckung neuer Ländereien und Handelsverbindungen. Vor allem die Suche nach einer Nordwestpassage, die Atlantik und Pazifik über den kaum erforschten Norden Amerikas verbinden sollte, lockte über Jahrhunderte zahlreiche Seefahrer ins gefährliche Packeis. Trauriger Höhepunkt war die Fahrt der Schiffe „Erebus“ und „Terror“ in den Jahren 1845 bis 1848 unter dem britischen Konteradmiral John Franklin. Die 129 Mann an Bord verschwanden im kanadischen arktischen Archipel.

In den Folgejahren durchkämmten etliche Suchexpeditionen, die oft genug selbst in Notlagen kamen, das Eis. Franklin fanden sie nicht, wohl aber seine ersehnte Nordwestpassage, die sich jedoch als Reinfall erwies. Wegen des vielen Eises erschien sie unpassierbar, für die kommerzielle Schifffahrt war sie jedenfalls uninteressant.

Die britische Admiralität hatte von Abenteuern in einer Region, in der weder Reichtümer noch geopolitische Schlüsselpositionen winkten, erst einmal genug. Dafür machte sich im übrigen Europa und in den USA ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine neuartige Krankheit breit: das arktische Fieber. Das Ziel war nicht mehr die Entdeckung neuer Seewege oder Fischgründe. Selbst der wissenschaftliche Fortschritt rückte in den Hintergrund. Der Pol selbst wurde zum Objekt der Begierde für tollkühne Männer, die sich in ihren schwimmenden Holzkisten in das Packeis des hohen Nordens aufmachten.


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mare No. 96

No. 96Februar / März 2013

Von Georg Rüschenmeyer

Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsjournalist und Sachbuchautor mit Wohnort im englischen York (auf knapp 54 Grad nördlicher Breite), war noch nie am Nordpol und wird wohl auch nie dorthin fahren. Monatelanges Ausharren im Packeis nach Art der großen Entdecker findet er zu ungemütlich, mal eben mit Air Berlin zum Nordpol jetten im Gegensatz dazu fast schon dekadent.

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Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsjournalist und Sachbuchautor mit Wohnort im englischen York (auf knapp 54 Grad nördlicher Breite), war noch nie am Nordpol und wird wohl auch nie dorthin fahren. Monatelanges Ausharren im Packeis nach Art der großen Entdecker findet er zu ungemütlich, mal eben mit Air Berlin zum Nordpol jetten im Gegensatz dazu fast schon dekadent.
Person Von Georg Rüschenmeyer
Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsjournalist und Sachbuchautor mit Wohnort im englischen York (auf knapp 54 Grad nördlicher Breite), war noch nie am Nordpol und wird wohl auch nie dorthin fahren. Monatelanges Ausharren im Packeis nach Art der großen Entdecker findet er zu ungemütlich, mal eben mit Air Berlin zum Nordpol jetten im Gegensatz dazu fast schon dekadent.
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