Die Last der Erinnerung

Die Salazar-Diktatur in Portugal errichtete 1936 auf den Kapverden ein Konzentrationslager für Dissidenten. Unser Autor, ein Fotograf, spürte vor Ort seinem einst dort inhaftierten Großvater nach

Als der fensterlose Gefängniswagen an dem Spätsommertag an der Pier von Leixões im Norden Portugals hielt, brannte die Sonne vom Himmel, doch weit weniger stark als die Sonne, die Guilherme da Costa Car­valho auf den Kapverden erwartete, wohin man ihn auf der „Quionga“ einschiffte. 

Er ahnte nicht, dass der Dampfer ihn an jenem 17. September 1949 zu dem Archipel vor Westafrika bringen sollte. Auf einem Foto sieht man Guilherme mit ernstem Gesicht gesenkten Blicks die Gangway zum Deck hinaufgehen. 

Im Jahr zuvor war er wegen seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Portugals verhaftet worden und wartete seither im Gefängnis von Peniche auf seinen Prozess. Eines Tages sagte man ihm, dass er verlegt werde. Wohin, das sagte man ihm nicht. In einem Telegramm bittet er seinen Vater Luiz Alves de Car­valho noch: „Sagen Sie Mama, sie soll mich diesen Freitag nicht besuchen.“

Nach seiner Ankunft in Praia, zu jener Zeit die einzige Stadt auf Santiago und Hauptstadt der portugiesischen Kolonie Kap Verde, brachten sie Guilher­me auf die andere Seite der Insel, nach Tarrafal, dem wichtigsten Straflager für Dissidenten des portugiesischen Faschismus, wo in den vergangenen 13 Jahren mehr als 30 seiner Kameraden umgekommen und viele mehr unter der sengenden Sonne an Malaria zugrunde gegangen waren.

An diesem Ort zeigte sich die Fratze der langlebigsten der Diktaturen West­europas. Sie war gnadenlos gegenüber denen, die ihr die Stirn boten, sie ließ jegliche Rechtsstaatlichkeit außer Acht und erhob sich über ihre Bürger, die sie an einen Ort verbannte, der durch die Worte des Lagerarztes Esmeraldo Pais Prata traurige Berühmtheit erlangte. „Ich bin nicht hier, um zu heilen. Ich bin hier, um Totenscheine auszustellen.“

Anfang 1936 schickte das Regime einen Emissär nach Deutschland mit dem Auftrag, den Bau von Konzentra­tions­lagern zu erkunden. Zurück in Portugal, entwarf dieser die Pläne einer „Strafkolonie von Kap Verde“, nahe dem Ort ­Tarrafal auf der von Dürre, Hunger und Malaria heimgesuchten Insel Santiago. 

Schon im September desselben Jahres wurde das berüchtigte „Lager des schleichenden Todes“ eingeweiht, wo einige der aus Sicht des Regimes gefährlichsten politischen Gefangenen jahrzehntelang unvorstellbare Not und Qualen erlitten, alle wegen „Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates“ verurteilt. Zwischen 1936 und 1954 waren dort 340 politische Gefangene inhaftiert, mehrheitlich Portugiesen und Weiße. Von 1962 bis 1974 litten dort 226 afrikanische Dissidenten, mehrheitlich Schwarze, die für die Befreiung von Portugals Kolonien kämpften, aus Angola, Guinea-Bissau und Kap Verde. Sie waren die Letzten in Afrika, die für die Unabhängigkeit von einer europäischen Kolonialmacht leiden mussten.

Ein Militärputsch, an dem António de Oliveira Salazar, geboren 1889, ein ehemaliger Seminarist und Juraprofessor, von der ersten Minute an beteiligt war, besiegelte 1926 das Ende der Ersten Republik und etablierte in Portugal ein autoritäres Regime. Salazar, zunächst Finanzminister, dann Ministerpräsident, behauptete sich bis 1968 als Diktator – dem Jahr, in dem er erkrankte und man ihn zum Schein weiterhin wöchentlich den Minis­ter­rat einberufen ließ, obgleich Marcelo Caetano ohne Salazars Wissen bereits als neuer Regierungschef fungierte. 

So geschah es bis zu Salazars Tod 1970. Seine engsten Vertrauten fürchteten, er werde es nicht überleben, wenn er erführe, dass er nicht mehr das Sagen hat in dem Land, für das er die Devise „Voll Stolz allein“ ausgegeben hatte. Jahrzehntelang hatte er mit eiserner Hand die klerikalfaschistische Diktatur angeführt, die er „Estado Novo“, „Neuer Staat“, nannte.

Mithilfe seiner geheimen Staatspolizei eliminierte er während seiner Herrschaft nahezu die gesamte Opposition – ausgenommen die Kommunis­tische Partei, die bis heute überlebt hat. 

Erst mit der „Nelkenrevolution“, angeführt von Soldaten, die des 13-jährigen Kolonialkriegs müde waren, endeten die 48 Jahre der Diktatur. Man schrieb den 25. April 1974; einige Tage später, am 1. Mai, waren alle Gefangenen in Tarrafal befreit. Später allerdings nutzte die PAIGC (Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde) das Lager zur Inhaftierung kapverdischer Oppositioneller, die sich inzwischen gegen die etablierte Einparteienregierung auflehnten. Bald nach der Unabhängigkeit der Kap­verden 1975 wurde Tarrafal geschlossen, Ende der 1990er-Jahre dann als Gedenkstätte und Widerstandsmuseum wiedereröffnet.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 156. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von João Pina

João Pina, geboren 1980 in Portugal, arbeitet seit dem 18. Lebensjahr als Fotograf, während der letzten 20 Jahre überwiegend in Südamerika. Seine zahlreichen preisgekrönten Arbeiten, häufig zu Menschenrechtsthemen, erschienen in großen internationalen Medien, er veröffent­lich­te drei Bücher und ist weltweit in Sammlungen vertreten. Derzeit lehrt er an der Columbia University in New York.

Mehr Informationen
Vita João Pina, geboren 1980 in Portugal, arbeitet seit dem 18. Lebensjahr als Fotograf, während der letzten 20 Jahre überwiegend in Südamerika. Seine zahlreichen preisgekrönten Arbeiten, häufig zu Menschenrechtsthemen, erschienen in großen internationalen Medien, er veröffent­lich­te drei Bücher und ist weltweit in Sammlungen vertreten. Derzeit lehrt er an der Columbia University in New York.
Person Von João Pina
Vita João Pina, geboren 1980 in Portugal, arbeitet seit dem 18. Lebensjahr als Fotograf, während der letzten 20 Jahre überwiegend in Südamerika. Seine zahlreichen preisgekrönten Arbeiten, häufig zu Menschenrechtsthemen, erschienen in großen internationalen Medien, er veröffent­lich­te drei Bücher und ist weltweit in Sammlungen vertreten. Derzeit lehrt er an der Columbia University in New York.
Person Von João Pina