Die Kunst des Lebens

An der Nordspitze Jütlands trafen sich im späten 19. Jahrhundert die besten Künstler nicht nur Dänemarks, sondern ganz Skandinaviens. Hier malten sie das Licht und ihr Leben in der Gemeinschaft

Michael Ancher kam 1874. Es war Sommer, Ancher war 25 und Student der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen. Mit seinem sechs Jahre jüngeren Studienfreund Karl Madsen hatte er sich auf den langen Weg aus der Hauptstadt ins Fischerdorf Skagen am nördlichen Ende Dänemarks gemacht. Vermutlich kamen sie unterhalb des Dünenkamms über die Bucht des Südstrands. Sie müssen weite Strecken zu Fuß zurückgelegt haben, denn 1874 gab es am Ende der Welt weder befestigte Straßen noch Bahnschienen und keinen Hafen. Elektrizität kam 1919, die erste asphaltierte Straße wurde 1932 gebaut, jahrhundertelang war Skagen sich selbst überlassen.

Als Ancher eintraf, war Anna 15 Jahre alt und das zweitjüngste Kind von Erik und Ane Hedvig Brøndum. Das fromme Ehepaar führte einen Kaufmannsladen und erhielt später von König Frederik VII. für die restlichen Teile des Gebäudes – einer Art Warenlager – die Lizenz für das einzige Gästehaus im Dorf. So entstand das „Brøndums Hotel“, das, weit abseits der anderen Häuser und Hütten, etwa 200 Meter vom Südstrand entfernt lag. Anna war in den Räumen jenes Hotels geboren worden, in dem Ancher und Madsen abstiegen. Sie wuchs zwischen Speiseraum, Gästezimmer, Stall und Garten auf. Sie war impulsiv und freiheitsliebend und, als Frau damaliger Verhältnisse, überaus eigensinnig. Ancher kam fortan jeden Sommer. Sechs Jahre nach seinem ersten Besuch heiratete er Anna. Peder Severin Krøyer ging von Kopenhagen erst nach Paris. Als auch er nach Skagen kam, begann rund um das „Brøndums Hotel“ eine sagenhafte Episode europäischer Kunstgeschichte.

Skagen steht auf Sand, manche der alten Häuser stecken noch schief im Boden. Dieser Boden lässt keine Landwirtschaft zu, natürliche Steine für den Hausbau gibt es nicht. Über Jahrhunderte arbeiteten die Menschen hier oben so hart, wie die Umstände es ihnen abverlangten. Sie fischten, lebten in Holz­hütten und bereicherten sich – auf legale Weise – mit angeschwemmten Gütern und Waren der regelmäßig an den Riffs ­zerschellenden Schiffe. 

Skagen trennt zwei Meere: Ost- und Nordsee, Kattegat und Skagerrak. Am Ende der Landspitze liegt eine wie ein Dorn in beide Meere stechende Sandbank. Mit einem breiten Ausfallschritt steht der rechte Fuß in der Ost-, der linke in der Nordsee. Aus unterschiedlichen Richtungen kommend, schlagen die Wellen beider Meere hier gegeneinander, und durch die unterschiedlichen Oberflächen des Wassers und den je unterschiedlichen Salzgehalt von Ost- und Nordsee entsteht jenes nordische Licht, das manche magisch nennen. 

Als Ancher und Madsen kamen, war Skagen unberührt, in gewisser Weise unverdorben. Die Freunde wollten Verkehr, Lärm und Hektik Kopenhagens entfliehen und fanden in Skagen ­schmale Pfade statt breiter Boulevards und Ursprünglichkeit statt Zivilisation. Das Dorf im Sand zählte damals um die 1000 Einwohner, fast alle waren Fischer, viele davon auch Seenotretter. 150 Jahre später ist Skagen eine aufgeräumte Kleinstadt mit Einfamilienhäusern unter Spitzgiebel­dächern, dunkelgelbem Laternenlicht, schwedenrot gestrichenen Häusern, Porzellanvasen mit Kornähren auf Fenstersimsen und liebevoll arrangierten Pflanzenbeeten in Kleingärten. Nach wie vor ist in der Stadt fast alles klein; Skagens Größe besteht in seiner Geschichte.

Dänische Marinemaler malten Schiffe. Keiner malte das Leben der Fischer von Skagen, und ohnehin malte keiner so realistisch wie Michael Ancher. Die Künstler des dänischen Goldenen Zeitalters in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschworen die Schönheit wogender Felder und verklärten das magische Licht des von ihnen verherrlichten Dänemarks. Ancher interessierten weder Idylle noch Nationalismus. Seine Gemälde zeigten den Kampf der heroischen, mit Backen- und Kinnbart versehenen Fischer gegen die Gewalten des Wetters und der Meere. Sie zeigten den Tod, das Leid, den Schmutz und die Fron derer, die, fast immer in gro­ßer Armut, in Häusern aus geteertem Holz in den Dünenlandschaften lebten. Michael Ancher war in der Lage, klassisch komponierte Gemälde zu schaffen, deren Realismus man dennoch für fotografisch halten könnte. Seine Kunst setzte Maßstäbe.

Peder Severin Krøyer kam 1882. Er wollte zurück in die Heimat, zurück nach Dänemark. Jahrelang hatte er in Italien, Paris, in der Bretagne und eine Weile in Cernay-la-Ville in einer Künstlerkommune gelebt, hatte Sardinenpackerinnen gemalt, Hut­macher, Bergarbeiter, den Staub der Schmieden und die geschwollenen Venen der Arbeiterhände. Krøyers Gemälde wurden in Paris ausgestellt, sein internationaler Ruhm war beträchtlich. Jetzt zog seine Anwesenheit in Skagen zahlreiche junge Künstler an, die sich von Norwegen, Schweden und England aus auf den Weg ans Ende Jütlands machten. Und wer immer kam, stieg im „Brøndums Hotel“ ab. 


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mare No. 163

mare No. 163April / Mai 2024

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politik­wissenschaft und lebt als Autor und Essayist in Hamburg. Seit 2015 lehrt er ­Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Neben der tiefen Freundschaft zwischen den Konkurrenten Ancher und Krøyer faszinierte ihn vor allem der frühfeministische Geist der Anna Ancher, die im verstaubten 19. Jahrhundert nahezu unbeirrt ihre eigenen Vorstellungen von Kunst und Leben ­umsetzte und als hochbegabte Autodidaktin die männerdominierte Kunstwelt ­verblüffte.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politik­wissenschaft und lebt als Autor und Essayist in Hamburg. Seit 2015 lehrt er ­Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Neben der tiefen Freundschaft zwischen den Konkurrenten Ancher und Krøyer faszinierte ihn vor allem der frühfeministische Geist der Anna Ancher, die im verstaubten 19. Jahrhundert nahezu unbeirrt ihre eigenen Vorstellungen von Kunst und Leben ­umsetzte und als hochbegabte Autodidaktin die männerdominierte Kunstwelt ­verblüffte.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politik­wissenschaft und lebt als Autor und Essayist in Hamburg. Seit 2015 lehrt er ­Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Neben der tiefen Freundschaft zwischen den Konkurrenten Ancher und Krøyer faszinierte ihn vor allem der frühfeministische Geist der Anna Ancher, die im verstaubten 19. Jahrhundert nahezu unbeirrt ihre eigenen Vorstellungen von Kunst und Leben ­umsetzte und als hochbegabte Autodidaktin die männerdominierte Kunstwelt ­verblüffte.
Person Von Christian Schüle