Die Kohlekumpel der See

In England schaufeln Männer Kohle aus der Nordsee

Heute weht ein schlechter Wind“, sagt Joseph und schaut aufs Meer hinaus, wo der ablandige Wind sich gegen die aufkommende Flut stemmt und ihr dabei weiße Kämme auf die Wellen setzt. Es weht ein Westwind, Stärke vier. Schlecht ist der Wind immer dann, wenn er aus Westen kommt. Oder wenn er nur als laues Lüftchen über die See haucht. Dann geht Joseph meist gar nicht erst los, sondern dreht sich im Bett noch einmal um und schläft ein Weilchen länger. Kommt er von Süden, Osten oder Norden, dann ist es ein guter Wind. Gut oder schlecht, das ist für Joseph, Robert, Benny, Allen, Peter und die anderen eine Frage von existentieller Bedeutung. Wenn sie sich morgens aus ihren Betten quälen, dann geht ihr erster Weg zum Fenster: Hinaussehen, woher der Wind weht. Denn nur bei Süd-, Ost- oder Nordwind spült die Flut ausreichend Kohle an den Strand.

Joseph Smith, 58, den alle nur Joe rufen, ist Seacoaler. Mit seinem Pferd Ruby, einem kleinen Wagen, Schaufel und Chippan, der typischen Netzschaufel der Seacoaler, zieht er jeden Tag an den Strand um Newbiggin-by-the-Sea an der Nordostküste Englands. Die angeschwemmte Kohle stammt von der Ellington Colliery. Waste coal, minderwertige Kohle. Seit den dreißiger Jahren wird sie einfach ins Meer gekippt. „Dumping“ nennt man das hier. Das ständige Hin und Her von Ebbe und Flut wäscht aus dem Abraum die noch brauchbare Kohle heraus und spült sie an den Strand. Im nächsten Jahr wird das Verklappen des Abraums im Meer endgültig verboten, dann wird es bald keine Seacoaler mehr geben. Zwar treibt die bis dahin verklappte Kohle noch eine Weile mit den Gezeiten, aber lange wird der Vorrat nicht ausreichen.

Etwa ein Dutzend Seacoaler sind sie noch in Newbiggin, Lynemouth und Ashington, viel mehr ernährt der kleine Küstenstreifen in Northumberland nicht. In den 50er Jahren, so erinnert sich Joe, da waren sie noch etwa hundert Seacoaler. Dazu noch Hunderte, die sich die Kohle für ihre eigenen Öfen aus dem Meer holten. Polizisten mußten den regen Verkehr der Pferdewagen regeln, mit denen die Seacoaler bis heute ihre Kohle wegfahren. Noch immer hat dieser kleine Küstenstreifen im Nordosten Englands die größte Dichte von Arbeitspferden in Europa. Die geringeren Erträge und die Härte der Arbeit haben die Seacoaler dezimiert. Der Rückgang der Ernte ging einher mit dem Sterben der umliegenden Zechen. Gab es 1950 noch etwa 30 Kohlengruben in der Gegend um Newbiggin, so ist es jetzt nur noch eine einzige.

Fast bedächtig wirft Joe mit der großen Schaufel die wasserschwere Kohle auf den Pferdewagen. Die Flut hat sie an den Strand geworfen, zu kleinen Kohlebänken zusammengetrieben. In hüfthohen Gummistiefeln steht er am Strand, immer wieder von der Brandung umspült. Manchmal benutzt er auch die Chippan und schaufelt mit ihr die Kohle direkt aus dem Brandungsschaum, der sie auf den Sand schleudert. Hundert Schaufeln füllen den Wagen. Eine halbe Tonne. Heute schafft Joe nur zwei Wagen voll. „Ich bin zu alt für diesen Job“, sagt er und stützt sich auf die Schaufel. Er hat es mit der Hüfte. Dazu hat er seit seiner Kindheit fiebriges Rheuma. Die Arbeit ist das reine Gift für seine Krankheit. Wie ein unruhig laufender Motor wackeln Hände und Kopf. Auch seine braungraue Stute Ruby ist mit zwölf Jahren schon ein wenig betagt für das Ziehen des schweren Kohlenwagens. Nur mit großer Mühe schleppt sie den beladenen Wagen hinter sich her durch den weichen Sand zum Ladeplatz, wo der Lastwagen des Aufkäufers die Kohle abholt.

Eine Tonne Seacoal, das bringt je nach Qualität zwischen sechs und zehn englische Pfund, umgerechnet etwa 15 bis 24 Mark. „Duff“, die feinere Kohle für das nahe Kraftwerk, bringt weniger als „Dross“, grobe Kohle für Öfen und Kamine. Oft verkauft Joe einen Teil vom Dross privat. Da macht er den Profit der Aufkäufer selbst und kann fast den dreifachen Preis erzielen.

Joe lebt seit 20 Jahren in einem kleinen trostlosen Caravancamp am Rande von Lynemouth, unweit des Zaunes, der die Kohleaufbereitung der Ellington Colliery umschließt. „Gypsy Camp“ heißt das Lager im Volksmund. Die Bezeichnung stammt aus einer Zeit, als hier noch häufig Travellers kampierten, die irischen Zigeuner. Heute haben die meisten Caravanbewohner ihren ständigen Wohnsitz dort. Schrott, Abfall und unzählige Meter Kunststoffummantelungen von dicken Kabeln, die die Travellers einst wegen des kostbaren Edelmetalls entweidet haben, umrahmen den Platz. Ruby grast nicht weit vom Camp entfernt. Im Winter steht die Stute in einem Stall, den Joe ihr hinterm Lager gebaut hat. „Ich fühle mich wohl in meinem Wohnwagen“, sagt Joe. An den langen Abenden unterhält ihn ein Fernseher, und unter dem Caravandach hat er ein paar Glasvitrinen eingebaut. Darin stehen seine Zierteller und -tassen.

Auf die ist Joe stolz. Er hat sich einen Kohleofen reingestellt und ein Loch für den Schornstein ins Dach geschnitten. Natürlich heizt er mit Seacoal. „Ein schöneres Feuer gibt es nicht!“ behauptet er. „Außerdem glüht die Seacoal einfach wunderbar. Viel besser als normale Kohle.“ Geht er ein paar Schritte aus dem Caravan, dann kann er das Meer sehen und den Strand, der ihn seit fast vierzig Jahren ernährt.

Montags ist Joes Kneipentag. Es ist der einzige Luxus, den er sich leistet. Da holt ihn schon vormittags sein Bruder Bobby ab und fährt mit ihm nach Newbiggin. Im Railway Inn trinkt er dann bis zur „last order“, spielt Domino, singt lauthals mit dem Musicbox-Elvis und albert mit den Kumpels herum. Nachholen, was im Wohnwagenlager zu kurz kommt. Dienstags ist er dann immer verkatert und bleibt zu Hause.

Es ist lange her, da hatte der Seacoaler eine Frau. Sie war ein Travellermädchen, und ihretwegen ist Joe in den Wohnwagen gezogen. Neun Jahre haben sie ohne Trauschein zusammengelebt, dann haben sie geheiratet. Eineinhalb Jahre nach der Hochzeit hatte seine Frau einen anderen. „Ich war ihr plötzlich nicht mehr gut genug“, sagt er. Doch das freie, unabhängige Leben im Wohnwagencamp entsprach seinem Wesen. Er blieb. Seine sieben Geschwister finden darin nichts Schlimmes. „Joe ist ein ganz besonderer Mensch“, sagen sie, „er ist glücklich mit diesem einfachen Leben im Wohnwagen und mit der Arbeit als Seacoaler.“

Die jahrelange Plackerei mit der Schaufel und das Herumlaufen in der kalten See – in den Wintermonaten mit den vielen Stürmen herrscht für die Seacoaler Hochsaison – haben die meisten Männer krank gemacht. Viele klagen über Rückenschmerzen und Rheuma. Meistens sind sie am Ende, noch ehe sie 50 Jahre alt werden. Terry Turner, 50, der schon als Schüler Kohle aus dem Meer erntete, musste mit 42 Jahren aufhören: Rheuma. In harten Wintern, so erinnert er sich, wuchsen seinem Pferd manchmal Eiszapfen aus den Nüstern.


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mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Von Rolf Nobel

Rolf Nobel ist Mitarbeiter der Fotoagentur VISUM.

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