Die Kinder von Ocean View

Ein Hafen zwischen den Meeren, doch ein Mangel an Seeleuten. Die Simon’s Town High School sorgt für Nachwuchs

Eine steile Treppe führt zum Klassenzimmer, das an einen Schiffscontainer erinnert. Auf der letzten Stufe oben der Blick über die False Bay, die ihren Namen zu Unrecht trägt. Es ist der richtige Ort, um am Kap die Seefahrt zu lernen. Schnelle Regenwolken fliegen vom Norden her, die Sonne bricht immer wieder durch an diesem warmen Wintertag im August. Das Wasser schimmert stahlgrau, winzig die Wellen, die gegen die großen Hafenmauern des Marinestützpunks in Simon’s Town schlagen. Die Bucht scheint fast geschlossen, gegenüber, Richtung Osten, die Bergzüge des Hottentotten-Massivs, links die Ebene der Cape Flats mit den hellen, endlosen Stränden an den Townships, dem Wolfgat-Naturschutzgebiet und den neuen Ferienanlagen.

Simon’s Town ist wie alle kleinen Städte entlang der langen Landzunge des Kaps steil in den Berg gebaut. Über elf Terrassen verteilen sich die Gebäude der High School, das Rugbyfeld und das Internat. Auf den ersten Blick erinnert die Anlage an eine Teeplantage, bis auf den nackten, roten Backstein. Backstein steht für Lernen, Ordnung.

Brian Ingpen empfängt mich umgeben von Schiffsmodellen, altertümlichen Computern und Schiffspostern. Er ist ein gemütlicher Mann um die 60 in einem ausgewaschenen blauen Pullover, den einige professorale Haarschuppen sprenkeln. Wir trinken Kaffee und essen Kekse. Neben ihm Godfrey Schlemmer, pensionierter Kapitän der Marine. Beide sind das Lehrpersonal des Maritime Studies Department. Sie unterrichten Seefahrt in den Klassen zehn, elf und zwölf.

Kapitän Schlemmer sieht man die Vorfahren an, großer norddeutscher Kopf, gesprächig wie ein Hamburger Hafenlotse, nur viel vornehmer. Brian Ingpen wartet geduldig, bis er ausgesprochen hat. Sehr englisch. Seine buschigen Augenbrauen bilden fragend ein V. „Noch einen Keks?“, unterbricht er den Kapitän höflich. Schlemmer lacht.

Brian Ingpen ist die Seele dieser ungewöhlichen Seefahrtsschule. Sie ist seine Idee. Die Kinder, die sie unterrichten, sind zum größten Teil aus den Townships. Nach drei Jahren, wenn sie die matric, das Abitur, machen, wissen sie so einiges über Ozeanografie, Seefahrtswege, Struktur der Schifffahrt, Frachtraten, Seefahrtsrecht, Schiffsbau, Meteorologie, Küsten- und Astronavigation, Hafenkunde, Reedereien. „Selbst mit einer mittelmäßigen Abitursnote“, sagt Ingpen, „haben sie nach drei Jahren Praxis und Theorie die Chance auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz in der Schifffahrtsindustrie, als Navigatoren, Chefingenieure, Kadetten oder Frachtmakler.“ Nicht zu vergessen: Profisegler.
Das Meer. Ich beobachte es durch die Tür, es ruft. Es will befahren werden.

Unten im Hafen steht Ian Ainsley am Pier und dirigiert seine Segelschüler. Der Wind ist selbst den professionellen Seglern zu launisch, aber die Schüler der Simon’s Town High School kennen nichts anderes. Auf den kleinen Jollen der Marine, jagen sie zu dritt oder zu viert aneinander vorbei.

Wenn Ingpen der Ökonom ist und Kapitän Schlemmer die Berufspraxis, dann ist Ian Ainsley das Abenteuer. Ein blonder Kerl, knapp 40, mit den hellen Augen eines Seglers. Der Blick aufs Meer, der Glanz der Sonne. Ian Ainsley ist ein Überflieger, Olympiasegler, Gewinner, Meister, Bezwinger; endlos reiht sich die Liste der Pokale, die er gewonnen und gesegelt hat und die nach Marken benannt sind wie Coca-Cola oder Louis Vuitton. Aber hat sie nicht alleine gewonnen. Segeln ist ein Teamsport, und der Geist, der dahintersteckt ist gut für ein Projekt wie Izivunguvungu (Xhosa für „starker Wind“), das Ian Ainsley ins Leben gerufen hat: die Kinder aus den Townships holen und den Wind spüren lassen.

Beim Segeln muss man sich aufeinander verlassen können. Konzentriert sein, seine Aufgabe beherrschen, keinen Fehler zulassen. Und man muss kämpfen. Etwas, das die Kinder aus einem Township wie Ocean View gelernt haben. Marcello Burricks zeigt manchmal seine Narben von Schraubenziehern und Messern. Ocean View ist Gangland, und man muss wissen, wie man sich zur Wehr setzt. Burricks ist mit 20 jüngstes Crewmitglied der „Shosholoza“, der Yacht, die für Südafrika an der berühmtesten Regatta der Welt teilnimmt, dem America’s Cup. Eine Welt der Superreichen und des Glamours, eine Welt der Weißen. Er hat an der Simon’s Town High Seefahrt studiert und ist sofort nach seiner matric Profisegler geworden, keine fünf Jahre, nachdem er Segeln gelernt hat.

Ocean View liegt wenige Kilometer entfernt von Simon’s Town, quasi über den Berg, an der Westküste des schmalen Kaps. Eine Siedlung von Barracken, Verschlägen, einfachen Häusern und Wohnblocks. Drei Viertel aller Schüler in Ocean View sind amphetaminsüchtig. Für einen Strohhalm mit tic gehen die Mädchen anschaffen. Jesus ist hier nur stark genug im Gewand der wenigen Auserwählten, der Zeugen Jehovas. Vor wenigen Monaten erst lieferten sich die Bewohner Gefechte mit der Polizei, weil Strom, Wasser und sanitäre Versorgung auf sich warten ließen. Die allgegenwärtige ANC-Provinzregierung, heißt es nicht zu Unrecht, bevorzuge die schwarzen Einwanderer und weniger Mischlinge oder Abkömmlinge der Ureinwohner wie Marcello Burricks.

Die Bewohner von Ocean View stammen ursprünglich aus Simon’s Town, das bis 1957 ein englischer Marinehafen war mit einem bunten Gemisch von Seefahrern und Einwohnern jeder Hautfarbe. Xhosa, Zulu, Sotho und Khoisan haben an der Seite der Alliierten gekämpft, aber die neue, strenge Rassentrennung der sechziger Jahre machte aus dem kleinen Städtchen mit seinen Kolonialbauten eine weiße, öde Stadt. Wer Bantu war oder Khoisan, wurde zwangsweise nach Ocean View umgesiedelt. Seeblick, was für ein Euphemismus: ein karges Stück Land, kein Ozean in Sicht, nirgendwo.

Die Erfolgsgeschichte von Marcello Burricks gibt der Geschichte Südafrikas eine Wendung und einem Land die Hoffung, die es braucht. Und er ist nicht der Einzige. Unter der 18-köpfigen Besatzung der „Shosholoza“ sind neben Trainer Ainsley drei Absolventen der Simon’s Town High School. Golden Mgedeza, 24 Jahre alt, und Solomon Dipeere, 23, stammen aus Kwa Thema bei Springs nahe Johannesburg. Sie hatten das Meer nie zuvor gesehen, als sie sich um das Stipendium an der Simon’s Town High bewarben, das vom Sponsor der Maritime Studies, dem Frachtmakler „Safemarine“, ausgeschrieben wurde. Ihr Mathematik- und Geografielehrer Ian Ainsley an der Simon’s High brachte sie zum Segeln, ihre ersten Kurse belegten sie bei der Marine, und bald schon trieben sie sich im False Bay Yacht Club herum und wurden Crewmitglieder auf den Rennyachten der Reichen. Golden und Solomon sollen es gewesen sein, die den leidenschaftlichen Segler Ainsley dazu bewegten, seinen Job aufzugeben und Izivunguvungu zu gründen. Einmal, weil sie von ihm trainiert werden wollten, und dann, weil sie selbst am besten wussten, wie wichtig es war für unterprivilegierte Kinder, eine echte Chance zu bekommen, fern ab vom täglichen Ghetto. Izivunguvungu startete 1997, als auch die Maritime Studies an der Simon’s High offiziell anerkannt wurden – nach nur einem Jahr der Testphase.

Golden Mgedeza war Segler des Jahres 2002 und der erste Schwarzafrikaner, der den angesehenen Lipton’s Cup gewann. Wie sein Freund Solomon Dipeere hat er seiner Karriere in der Schifffahrtsbranche den Rücken zugekehrt, um ganz Segler zu sein, nur Segler. Die Welt sehen – er hat verwirklicht, wovon die Jugendlichen träumen, Marseille, Valencia, all die Häfen der Regatten. Er war da.

Die Schüler von Ian Ainsley fallen ins Wasser, kentern, die Boote rammen sich. Eine Regatta wird gefahren, und die 15- bis 19-Jährigen müssen schnell sein, Leistung zeigen. Aber man sieht sie lachen. Man gewinnt Freunde fürs Leben – und entdeckt ein Geheimnis: Wasser und Sonne machen die Seele leicht, sie fliegt. Dass die einst Vetriebenen zurückkehren nach Simon’s Town, ist ein Phänomen des neuen Südafrika. Land wird zurückerobert, Leben, und das Wasser, das selbst für die Bewohner der Townships nah am Meer eine fremde Welt ist. „Bantu und Khoisan hatten keine Seefahrtstradition“, erklärt Kapitän Schlemmer. „Wie die Südafrikaner überhaupt“, fügt er entschuldigend hinzu, „es interessieren sich erstaunlich wenig Menschen für das Meer.“

Es waren Seefahrer, die das Kap für sich entdeckten, Holländer, Deutsche, später Engländer, Iren, Schotten. Simon’s Town ist benannt nach dem Gouverneur der damaligen Kapkolonie, der im 17. Jahrhundert auf der sturmgeschützten Seite des Cap Tormentoso die Flotte der Dutch East India Company ankern ließ, wenn im Winter der Nordwest blies. Der Sommer wieder bringt den starken Südostwind aus der anderen Richtung. „

Der Hafen ist immer bescheiden geblieben, ein Zwerg im Vergleich zum Handelshafen im nahen Kapstadt, dessen Kais sich über Kilometer hinziehen. Ein gemütlicher Ort, der jedes Jahr das Pinguinfestival feiert für die Touristen, die kommen, um die Kolonie kurz hinter den Hafenmauer zu besuchen. Und ebenfalls ein Mal im Jahr, im April, findet der Parcours der Dänischen Doggen statt, um den Geburtstag von Just Nuisance zu feieren, einer Dogge, die im Zweiten Weltkrieg als Seemann diente und mehreren Matrosen das Leben gerettet hat. Hauptsächlich als Begleiter der Betrunkenen zurück zum Schiff. Damals bildete die Marine auf dem Kriegsschiff „General Botha“ Jungs aus für die Handelmarine, ähnlich wie Ingpen und Schlemmer. Die Schule wechselte nach Gordon’s Bay, an das andere Ende der Bucht. Von dieser Mitte der sechziger Jahre aufgelösten Schule hat Ingpen die Idee übernommen. Er hat die Zeichen der Zeit erkannt.

Die Seefahrt sieht sich einem wachsenden Mangel an Fachpersonal gegenüber, und das in einem Land mit bis zu 40 Prozent Arbeitslosigkeit. Noch bevor die ANC-Regierung das Black Empowerment-Programm startete, das vor allem Bantus und in zweiter Linie Khoisan und Kapmalaien den Vorzug bei der Stipendien- und Stellenvergabe gibt, startete Brian Ingpen seine Maritime Studies, unterrichtete Ian Ainsley die Kinder aus den Townships. Die Kinder, die von dort kommen, wissen, was sie wollen: Arbeit, Anerkennung, die Welt jenseits von Afrika sehen. Und noch genauer wissen sie, was sie nicht wollen: den Abstieg, die Gewalt in den Townships wie Ocean View, Armut, Chancenlosigkeit, Alkoholismus, organisiertes Verbrechen. Das Modell einer Gesellschaft, die sich selbst zerstört. Wie damals von der Apartheid geplant.

Brian Ingpen stellt mir zwei Schüler vor, zwei Brüder, Redan Lee und Tidarn Lain Williams. Redan besucht die zwölfte Klasse, Tidarn die neunte. Redan hat es schon in den maritimen Zweig der Simon’s High geschafft. Die Auswahl ist streng, die Mittel sind begrenzt. Weniger als die Hälfte des Jahrgangs hat Platz in den Maritime Studies A und B, 50 Schüler, und das beim einzigen Projekt dieser Art in Südafrika. Dabei ist der Lebensweg der Brüder aus Ocean View schon vorgeschrieben. Redan und Tidarn wollen Chefmaschinisten werden wie ihr Vater, der ein Mal im Monat für wenige Tage nach Hause kommt von seiner Arbeit auf einem Fischtrawler. Was sie reizt an diesem Beruf? Sie wollen im Maschinenraum stehen, sie wollen zur See gehen, sie wollen die Welt bereisen. Das eine führt nicht zum anderen, aber Träume gehören zur Familientradition.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 52. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 52

No. 52Oktober / November 2005

Von Sven Lager und Jodi Bieber

Sven Lager, Jahrgang 1965, war Autor und Schriftsteller (Phosphor, Im Gras). Er lebte mit seiner Familie zweitweise in Hermanus (Südfarika), arbeitete dort als Autor für zahlreiche Magazine und Zeitschriften. Er gründete das erste Share-House vor Ort. Zurück in Berlin setzten er und sein Frau Elke Naters, zwei weitere Share-Hause-Projekte in Berlin, in Kreuzberg und Neu-Köln um. Sven Lager starb 2021.

Fotografin Jodi Bieber, geboren 1967, fühlte sich bei der Arbeit an ihre eigene Schulzeit in Johannesburg erinnert. Die gleiche Umgebung, die gleichen Uniformen, nur eben zur Zeit der Apartheid: „Ich habe noch die strikte Rassentrennung erlebt.“

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Vita Sven Lager, Jahrgang 1965, war Autor und Schriftsteller (Phosphor, Im Gras). Er lebte mit seiner Familie zweitweise in Hermanus (Südfarika), arbeitete dort als Autor für zahlreiche Magazine und Zeitschriften. Er gründete das erste Share-House vor Ort. Zurück in Berlin setzten er und sein Frau Elke Naters, zwei weitere Share-Hause-Projekte in Berlin, in Kreuzberg und Neu-Köln um. Sven Lager starb 2021.

Fotografin Jodi Bieber, geboren 1967, fühlte sich bei der Arbeit an ihre eigene Schulzeit in Johannesburg erinnert. Die gleiche Umgebung, die gleichen Uniformen, nur eben zur Zeit der Apartheid: „Ich habe noch die strikte Rassentrennung erlebt.“
Person Von Sven Lager und Jodi Bieber
Vita Sven Lager, Jahrgang 1965, war Autor und Schriftsteller (Phosphor, Im Gras). Er lebte mit seiner Familie zweitweise in Hermanus (Südfarika), arbeitete dort als Autor für zahlreiche Magazine und Zeitschriften. Er gründete das erste Share-House vor Ort. Zurück in Berlin setzten er und sein Frau Elke Naters, zwei weitere Share-Hause-Projekte in Berlin, in Kreuzberg und Neu-Köln um. Sven Lager starb 2021.

Fotografin Jodi Bieber, geboren 1967, fühlte sich bei der Arbeit an ihre eigene Schulzeit in Johannesburg erinnert. Die gleiche Umgebung, die gleichen Uniformen, nur eben zur Zeit der Apartheid: „Ich habe noch die strikte Rassentrennung erlebt.“
Person Von Sven Lager und Jodi Bieber