Die Inuit-Art des Eises

Bei den Polarvölkern gibt es viele Worte für Eis

Eis ist ein fester Bestandteil im Winterleben der rund 10 000 Inupiat, die den Norden Alaskas bevölkern. Wenn das Packeis, meist einfach siku – Eis – genannt, von seinem „Sommersitz“ an der Packeisgrenze im Norden zur Küste wiederkehrt, sprechen die Inupiat von tuvaqtuq: Das Packeis kommt herangeschoben. Der Druck der nachfolgenden Eismassen türmt in manchen Jahren die Schollen an der Küste zu meterhohen Kämmen auf. Normalerweise ist das Eis an der Küste fest verankert. Wenn es aber der Sturm von der Küste wegdrückt, entsteht offenes Wasser entlang der Ufer: killin¸iqsinniq. Offenes Wasser zusammen mit Stürmen konnte vor allem früher Hungersnöte verursachen, weil die Inupiat im Winter nur auf dem Eis an ihre „Brötchen“ herankamen: Fische und Robben. Inzwischen gibt es in allen Orten Lebensmittelgeschäfte. Doch wenn durch Unwetter der Nachschub ausfällt, wird es noch heute für die Bewohner problematisch.

Bei ruhigem Wetter bildet sich im offenen Wasser zwischen einzelnen Schollen leicht Neueis: sikulg.auraq. Auf diesem Salzwassereis wird der Schnee- und Eismatsch als misal–hak bezeichnet. Größere Flächen von Schnee- und Eismatsch, die auf dem Wasser schwimmen und noch nicht zusammengefroren sind, nennen die Inupiat dagegen mug.rak, während Schnee- und Eismatsch auf dem Packeis misak heißt. Dieses Wort wird ebenso wie misal–hak auch auf Sumpf und nasse Erde bezogen (man beachte den gleichen Wortstamm!). Der Unterschied zu mug.rak ist von praktischer Bedeutung: Durch misal–hak und misak kann man waten, weil der Untergrund fest ist, während mug.rak unbetretbar auf dem Wasser schwappt.

Das Packeis besitzt den gleichen Stellenwert wie das Festland, nur ist es nicht immer vorhanden. Die gedankliche Verbindung zwischen den beiden festen Zuständen Eis und Land zeigt sehr schön der Begriff für „Walross auf dem Eis“: nunavak. Darin steckt das Wort nuna, Land, und die Endung -vak, groß, so dass es sich auch mit „etwas Großes auf dem Land“ übersetzen ließe. Ein anderes Beispiel für die Entsprechung von Land und Eis bezeichnet qasaqtaq, was etwa „Wasser, heftig gegen die Küste des Eises schlagend“ bedeutet. Den Eisrand setzen Inupiat mit der Landküste gleich.

Uin˜iq, offene breite Rinnen im Packeis, sind für die Inupiat lebensnotwendig. Wale benutzen die uin˜iq im Frühjahr als „Autobahnen“ gen Norden. Gehen sie auf Walfang, haben die Inupiat ihre Boote auf dem Eis stets dabei, sie halten Ausschau, und sie kampieren auf dem Eis – das alles ist in dem einen Wort ataaqtuqtut enthalten, wobei die Endung -tut „sie“ bedeutet.

Es kommt vor, dass Robben- oder Walrossjägern, die ohne Boot auf dem Eis jagen, uisautut widerfährt: auf eine abbrechende Eisscholle zu geraten. Sie müssen dann versuchen, über andere Schollen zurück zum festen Eis zu kommen.

Gelingt dies nicht, kann es ihnen ergehen wie drei Jägern von King Island in Nordwest-Alaska, deren Eisscholle abgetrieben wurde. Sie versuchten immer wieder, über das sich ständig verschiebende Packeis auf festeres Eis und dann an Land zu gelangen. Sie hatten weder Zelt noch Proviant dabei. Bei Sturmwind mit bis zu 90 Stundenkilometern trieben sie Richtung Sibirien, Salzwasser sprühte in ihre Gesichter. Sie überkletterten ivuniq, Hügelkämme aus zusammengeschobenen Eisschollen, schritten durch Wasser, das – qaamittuq – über das Eis floss. Sie schmolzen Schnee zu Trinkwasser, immiuqtut, indem sie ihn in ihre Robbenhautflaschen füllten und am Körper wärmten. Endlich erlegten sie am dritten Tag eine Robbe. Bald fingen ihre Füße an, zu erfrieren, trotz ihrer Schuhe aus Bartrobbenleder und der Karibufellsocken. Mehrmals fielen sie durch sikuaq, dünnes Eis auf dem Wasser, von Schnee bedeckt. Die Robbenfellhosen hielten zum Glück das Wasser ab. Sie hatten kleine Schneeschuhe dabei, um über mugaliq, das Matscheis, oder über junges Eis zu gehen. Als nach 14 Tagen ständigen Laufens, Kletterns und Springens schließlich wieder Land in Sicht kam, hatte nur einer der drei überlebt.

Ebenso wie es dieser Jäger tat, so springt auch „Fräulein Smilla“ in Peter Høegs gleichnamigem Bestseller-Roman über das Treibeis von Scholle zu Scholle – maurag.aq –, um den Weg zum Ufer abzukürzen. Die Geschichte über eine Grönländerin hat bei Millionen Menschen das Interesse an der Wahrnehmung der Polarvölker geweckt, deren frostige Welt so viele nuancenreiche Begriffe für das Eis hervorgebracht hat. Doch zum Überleben am Pol nutzt allein die Kenntnis dieser Begriffe wenig. Wer maurag.aq praktizieren will, braucht gute Kondition zum Springen und Balancegefühl, um auf den schwankenden Schollen nicht umzukippen. Von der Nachahmung wird abgeraten – es sei denn, man ist im siku großgeworden!

mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Karin Berning

Die Ethnologin Karin Berning lebte drei Jahre in Alaska und studierte die Inupiaq-Eskimo-Sprache. Heute arbeitet sie in der Berlinforschung im Dahlemer Völkerkunde-Museum.

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Vita Die Ethnologin Karin Berning lebte drei Jahre in Alaska und studierte die Inupiaq-Eskimo-Sprache. Heute arbeitet sie in der Berlinforschung im Dahlemer Völkerkunde-Museum.
Person Von Karin Berning
Vita Die Ethnologin Karin Berning lebte drei Jahre in Alaska und studierte die Inupiaq-Eskimo-Sprache. Heute arbeitet sie in der Berlinforschung im Dahlemer Völkerkunde-Museum.
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