Die Insel des Syndikats

Das organisierte Verbrechen Brasiliens kam nicht in Rio de Janeiro zur Welt, sondern auf einer Insel, in einer Strafanstalt. Im brasilianischen Alcatraz. Dabei leisteten politische Aktivisten Schützenhilfe

Da sitzt er also. So sieht einer der ersten Anführer des Comando Vermelho aus, des größten, mächtigsten und brutalsten Drogenkartells Brasiliens. Ein kleiner, gebrechlicher Mann mit einer goldfarbenen Uhr mit Glitzersteinen am linken Handgelenk. Er ist 74 Jahre alt und sitzt auf einem Plastikstuhl in einem schmucklosen Raum im Zentrum Rio de Janeiros, dem Büro eines Mittelsmanns. Neben ihm seine Frau Simone, noch kleiner als er, sie trägt komplett Schwarz, um den Hals einen Schal mit Totenköpfen.

Es ist ein heißer Tag, die Olympischen Spiele sind gerade zu Ende. Aus dem Nachbarzimmer dringen die Radionachrichten über eine Drogenrazzia im Complexo do Alemão, eine der größten Favelas der Stadt und Hauptsitz des Comando Vermelho, des Roten Kommandos. Was geht ihm dabei durch den Kopf? „Diese geldgierigen Drogenhändler“, sagt William da Silva Lima abfällig. „Uns ging es damals um finanzielle Hilfe für die Armen, für uns alle, die am Rand der Gesellschaft standen.“

Da Silva muss es wissen, denn in den 1970er-Jahren gründete er die Organisation, die noch immer die Stadt terrorisiert. Das Comando Vermelho, kurz CV, ist eines der wichtigsten Drogenkartelle Lateinamerikas. Es hat den Hauptsitz in Rio, operiert aber in ganz Brasilien und unterhält Verbindungen zu allen großen Drogen- und Waffensyndikaten auf dem Kontinent. Die Slumlords herrschen in vielen der 1200 Favelas der „Wunderbaren Stadt“. Um sich gegen die Polizei und die rivalisierenden Banden zu schützen, hat sich das CV bewaffnet und führt Krieg gegen beide.

Durch die Verlegung von immer mehr Gefangenen in andere Gefängnisse breitete sich die organisierte Kriminalität immer weiter in Brasilien aus und veränderte vor allem Rio de Janeiro. In vielen Favelas läuft nichts mehr ohne die Erlaubnis der Drogenbosse, sei es der Bau eines Fußballplatzes mit staatlichen Geldern oder die Einrichtung eines Kindergartens durch eine NGO. Sie geben sich als Helfer und Beschützer der Armen, die im Gegenzug stillschweigend ihre Geschäfte ertragen und sie verstecken.

Viele Telefonate waren notwendig, um ihn zu finden und zu einem Treffen zu bewegen. Als er eintrifft, redet er sofort los, ohne dass ihm eine Frage gestellt wurde. „Ich bin eine vollkommen in die Gesellschaft integrierte Person“, sagt er, „das CV ist für mich Geschichte.“ Diesen Satz wird er im Verlauf des Gesprächs regelmäßig wiederholen. Als müsse er sich selbst vergewissern, dass dies so ist. Rasch wechselt er jetzt zu Sozialgeschichte, Karl Marx und Klassenkampf und singt sogar ein Kampf­lied, aber es ist schwer, ihm zu folgen. Fragen, etwa nach der frühen Zeit des CV im Gefängnis und der Struktur dort, beantwortet er nicht. Er ­lächelt nur freundlich. „William hat seit einem Unfall vor vier ­Jahren eine Metallplatte im Kopf“, erklärt schließlich seine Frau. „Er hat Erinnerungs- und Sprachschwierigkeiten.“

Simone ist Rechtsanwältin, sie lernte da Silva im Gefängnis auf Ilha Grande kennen, das sie als Referendarin besuchte. Seit ­ 33 Jahren sind sie ein Paar, bekamen drei Kinder und haben drei Enkel. Simone ist eloquent und kennt alle Geschichten ihres Mannes. Sie antwortet oft an seiner Stelle.

1991 hat er eine Art Autobiografie veröffentlicht mit dem Titel „400 gegen 1“. Sie enthält neben reichlich linker Klassenkampfpropaganda Anekdoten aus dem Gefängnisalltag sowie die Liebesgeschichte von William und Simone. Sie ist ein Freibrief für Verbrechen aus Armut, geschrieben in einem anspruchsvollen Portugiesisch, das da Silva zumindest nicht spricht. Simone dagegen schon. Außerdem entlarvt das Buch, wie militant-kriminell da Silva war und welche engen Beziehungen er zum CV auch während der Haft pflegte. Bis 2008 saß er im Hochsicherheitsgefängnis Bangu 1 in Rio de Janeiro. Aufgrund diverser Fluchtversuche war er zu „lebenslänglich“ verurteilt worden.

Unter seinem hochgerutschten Hosenbein ist eine elektronische Fußfessel über seinem dünnen Knöchel zu sehen. Fast 40 Jahre lang saß da Silva im Gefängnis und trägt nun seit acht Jahren die Fessel. Er ist noch immer Gefangener. „Gefangener des Systems“, korrigiert Simone. „Mein Mann war nie solch ein Verbrecher wie die heutigen Banditen. Er hatte politische Ideale. Er versteht sich nicht als Anführer. Von gar nichts.“ Man kann in ­Simones Redeschwall kaum unterscheiden, ob sie als Ehefrau oder als Verteidigerin auftritt.

„William und die anderen früheren Begründer haben ein Netzwerk in ganz Brasilien aufgebaut. Am Anfang bekamen sie dabei Unterstützung von der Mittelschicht, weil diese eine gewisse Sympathie für die Favelabewohner hatte“, rechtfertigt Simone. „Armut hat sie zu Überfällen getrieben. Aber diese Sympathie gibt es nicht mehr. Das CV ist heutzutage eine breit gefächerte Verbrecherbande mit streng hierarchischer Struktur. ­Damit hatten wir damals nichts zu tun, als alles begann.“


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mare No. 120

No. 120Februar / März 2017

Von Annett Heide

Annett Heide, geboren 1967, lebt seit zweieinhalb Jahren in Rio de Janeiro. Vorher wohnte sie knapp acht Jahre in New York. Sie arbeitet als freie Reporterin unter anderem für Zeit, Brigitte, Stern Crime, Nido und Berliner Zeitung und beobachtet vor allem soziale und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Vita Annett Heide, geboren 1967, lebt seit zweieinhalb Jahren in Rio de Janeiro. Vorher wohnte sie knapp acht Jahre in New York. Sie arbeitet als freie Reporterin unter anderem für Zeit, Brigitte, Stern Crime, Nido und Berliner Zeitung und beobachtet vor allem soziale und gesellschaftliche Entwicklungen.
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Vita Annett Heide, geboren 1967, lebt seit zweieinhalb Jahren in Rio de Janeiro. Vorher wohnte sie knapp acht Jahre in New York. Sie arbeitet als freie Reporterin unter anderem für Zeit, Brigitte, Stern Crime, Nido und Berliner Zeitung und beobachtet vor allem soziale und gesellschaftliche Entwicklungen.
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