Die Heldinnen der Hessle Road

In Hull an Englands Nordsee erkämpften resolute Fischersfrauen mehr Sicherheit für ihre Männer auf hoher See

Im ersten Stock des Maritime Museum von Kingston upon Hull, kurz Hull, einer mittelgroßen englischen Stadt am Ufer des Flusses Humber, der sich knapp 40 Kilometer östlich in die Nordsee ergießt, wird jeden Tag die Seite eines Buches umgeblättert. Es ist in Leder gebunden, in eine Vitrine gebettet, das Papier kunstvoll kalligrafisch beschrieben. Wer es berührt, muss Handschuhe tragen, das ist vielleicht auch eine Frage des Respekts. Gut 6000 Namen sind darin gelistet, verteilt auf die Tage eines Jahres, geordnet nach Daten, von denen sich manche tief eingegraben haben in das Gedächtnis der Stadt. Todestage, die, genau genommen, oftmals keine sind. Denn wer weiß schon, wann einer sein letztes Stoßgebet gesprochen hat, den letzten Atemzug getan – wenn er nie mehr zurückkommt in den Hafen, ins Leben. Wenn nichts mehr bleibt als ein Notsignal, ein hilfloser Funkspruch, eine Erinnerung an einen Mann, der ins Taxi stieg, mit einem Seesack und der Hoffnung auf reichlich Fang und gutes Geld.

„St. Andrews Memorial of Hull’s Lost Fishermen“ ist der Titel der traurigen Anthologie, eine späte Würdigung der Arbeiter des Meeres, die für Hull über Jahrhunderte identitätsstiftend waren. 1883 wurde der Hafen St. Andrew’s eingeweiht, um 1930 verließen die Boote die leer gefischten lokalen Gewässer und suchten ihr Glück vor Island, Grönland, Kanada. In den 1970ern besaß Hull eine der größten Fischereiflotten der Welt.

„Wir müssen unsere Geschichte be- wahren“, sagt Jill Long. Leicht schnaufend ist sie erhobenen Hauptes die viktorianische Treppe des Museums hinaufgestiegen, den Aufzug hat sie verschmäht für ihren „geliebten Scarlett-O’Hara-Moment“ und heiser gelacht dazu. Jill, 72 Jahre, kompakte Gestalt im wild gemusterten Stretchkleid, die blonden Locken fachmännisch gelegt, eine Handtasche in Überlebensgröße fest im Griff. Manche in Hull würden es erahnen, ob ihrer Haarfarbe und des Modemuts: Jill ist fisherman’s wife, die Frau eines Fischers. Lange war das im gesellschaftlichen Leben der Stadt ein fester Begriff.

Seit 40 Jahren fahren keine Trawler mehr aus Hull nordwärts bis kurz vor die Eisgrenze, um tonnenweise Kabeljau aus dem Meer zu schaufeln. Quoten und Hoheitsrechte haben nicht nur die Industrie sterben lassen, sondern auch den Lebensstil derer, die wenigstens ihre Erinnerungen retten wollen. Vor einigen Jahren hat Jill mit einer Gruppe Gleichgesinnter Geld gesammelt, Buchbinder be- gutachtet, Illustratoren gesucht, seit 2005 liegen Stolz und Schmerz der Fischerfamilien im Museum hinter Glas.

In diesem warmen August ist eine Seite ohne Einträge aufgeschlagen, noch nie hat offenbar am Sechsten des Monats ein Fischer aus Hull sein Leben auf See verloren. Jills Schicksal steht auf einem anderen Blatt, sie bekommt es nie zu sehen, weil das Museum über Weihnachten schließt. Es war der 25. Dezember 1966, als sie die Nachricht bekam, dass ihr Tony für immer draußen bleiben würde. Sein Schiff, die „St. Finbarr“, hatte Feuer gefangen, nur 13 von 25 Mann konnten gerettet werden. Jill war 19, als sie Witwe wurde und alleinerziehende Mutter, die erste gemeinsame Tochter war zehn Monate alt, die zweite unterwegs.

Im „Locarno Ballroom“ waren sie sich zum ersten Mal begegnet, beim Nachmittagstanz für Teenager. Ihren weit schwingenden Reifrock hatte Jill eigenhändig genäht, dafür die Sprache verloren bei der ersten Annäherung an das andere Geschlecht. „Wir Mädels haben nur ge- kichert.“ Ernst wurde es erst, als Tony voll Freude erzählte, er werde Küchenjunge auf einem Fischtrawler. Eigentlich war er mit 15 per Gesetz noch zu jung, aber so genau nahmen es die Fischereibosse nicht.

Tony Harrison hatte viele gute Gründe, das Festland hinter sich zu lassen. Seine Mutter war an Tuberkulose gestorben, als er drei Jahre alt war. Wenn der Vater ins Pub ging, sperrte er ihn in ein winziges Zimmer. Tony hatte seine halbe Kindheit hinter Schloss und Riegel verbracht, bis die Stiefmutter bei ihnen einzog und ihn hinauswarf. Sein Leben würde fortan einem harten Zeitplan gehorchen. Gute drei Wochen waren die Schiffe unterwegs, drei Tage hatte die Besatzung Landurlaub, dann ging es wieder los. Aber wer gut war, konnte sich schnell hocharbeiten, von der Kombüse aufs Deck, konnte Boots- oder Steuermann werden, am Ende gar Kapitän. Würde mehr und mehr Geld verdienen und damit um sich werfen, in den Pubs auf der Hessle Road, die die Lebenslinie der Fischerfamilien war. Würde Maßanzüge ordern bei Waistells Schneiderei, schweren Goldschmuck kaufen für die Liebste bei Juwelier Hird, vielleicht sogar einen der glänzenden Neuwagen, in denen die Kapitänsgattinnen mit frisch ausstaffierten Kindern am St. Andrew’s Dock auf die Ankunft ihrer Männer warteten. Alle Jungs in den Häusern um die Hessle Road träumten vom Abenteuer auf See, die Mädchen träumten von den Abenteurern, und Jill Long bekam ihr erstes Liebestelegramm von Bord.

„I loved him to pieces“, sagt Jill mehr als 50 Jahre und acht Urenkel später. Es gibt Sätze, die lassen sich schlecht übersetzen. Von Liebe und Verrücktheit würde man im Deutschen vielleicht sprechen, erst recht, weil sie ihren Eltern damals erzählte, sie erwarte ein Kind, was nicht stimmte, um Tony mit 17 endlich heiraten zu können, nach drei Jahren Heimlichtuerei. Der Vater brüllte: „Warum einen verdammten Fischer?“ Aber er setzte die Unterschrift unter das Papier, das die Minderjährige zur Eheschließung brauchte. An einem sonnigen Frühlingstag im März 1965 versprachen Jill und Tony sich zu lieben, bis dass der Tod sie scheide. Es schien, als hätten sie die Zeit auf ihrer Seite. Jill wurde schnell schwanger, am 27. Februar 1966 kam Tochter Jane zur Welt, und Jills Vater sagte: „Das war aber eine lange Schwangerschaft.“

Ein junges Glück in der Taktung der Fangzüge, das Leben komprimiert auf drei Tage im Monat, um den Menschen kennenzulernen, mit dem man die Zukunft teilen will. Um zu lieben, zu streiten, zu feiern und in einem weichen Bett die Folgen zu kurieren. Um Kinder zu machen, auf Fotografien im Arm zu halten, um als Familie an einem Tisch zu sitzen, als wäre alles ganz normal.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 137. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 137

No. 137Dezember 2019 / Januar 2020

Von Martina Wimmer und Simon Sharp

mare-Redakteurin Martina Wimmer war froh, dass sie eine ganze Woche in Hull verbracht hat. So konnte sie sich an den Akzent der Frauen gewöhnen, um sie ansatzweise zu verstehen.

Der britische Fotograf Simon Sharp erhielt für seine Porträtserie The Women den British Life Photography Award.

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Vita mare-Redakteurin Martina Wimmer war froh, dass sie eine ganze Woche in Hull verbracht hat. So konnte sie sich an den Akzent der Frauen gewöhnen, um sie ansatzweise zu verstehen.

Der britische Fotograf Simon Sharp erhielt für seine Porträtserie The Women den British Life Photography Award.
Person Von Martina Wimmer und Simon Sharp
Vita mare-Redakteurin Martina Wimmer war froh, dass sie eine ganze Woche in Hull verbracht hat. So konnte sie sich an den Akzent der Frauen gewöhnen, um sie ansatzweise zu verstehen.

Der britische Fotograf Simon Sharp erhielt für seine Porträtserie The Women den British Life Photography Award.
Person Von Martina Wimmer und Simon Sharp