Die heimliche Hauptstadt des Mittelmeers

mare-Serie „Legendäre Hafenstädte“: Marseille. EineHafen-Metropole will wieder nach oben

Der Mund öffnet sich mit einer raschen Bewegung und formt ein lautloses „Oh?“. Brauen heben sich und legen die Stirn in Falten. Und die Augen, ja, die Augen weiten sich, der Blick wird scharf und starrt ungläubig. Das Gesicht formt ein einziges großes Fragezeichen. Und all das, nur weil ich auf ihre Frage nach meinem Wohnort „Marseille“ sage.

Ich weiß, was jetzt in ihr vorgeht. Sie assoziiert wie all die anderen auch Hafenstadt und dunkle Gestalten, Dreck, Armut und Kriminalität, Immigranten und Front National, Mafia und Nutten. Und ich weiß, dass ihre nächste Frage nur heißen kann: „Warum ausgerechnet Marseille? Warum nicht Paris, die Côte d’Azur oder wenigstens Aix-en-Provence? Du kannst doch wohnen, wo Du willst?“

Um ihr die Frage zu ersparen und die Konversation im Griff zu behalten, lächle ich sie freundlich an, schenke uns noch ein Glas ein und sage es ihr: „Denn da ist das wahre Leben“.

Die Kirche Notre-Dame de la Garde schützt nicht nur alle Seeleute vor Pestilenz und Tod und neuerdings Aids, sie bietet auch einen Rundblick von 360 Grad über Marseille und enthüllt eine auf 240 Quadratkilometern unstrukturiert dahingeklatschte Stadt auf sieben Hügeln ohne herausragende Wahrzeichen. Gräulichgelb schimmern die Gebäude, Straßen und Plätze aus der Entfernung, der kahle Kalkfels sowieso, und wer genauer hinschaut, bemerkt, dass auch noch die Farben von Himmel und Meer verblassen und sich ihrer Umgebung anpassen.

„Eine hässliche Stadt“, wird der Besucher sagen und enttäuscht den Weg in die Stadt hinuntergehen. Recht hat er, der Besucher, der erste Blick täuscht nicht, er braucht schon etwas Zeit und Lust, in den Mikrokosmos einzutauchen, um das wahre, das einmalige Marseille zu entdecken.

Marseille ist nicht Paris, weiß Gott nicht. Dort die reiche, schöne, mächtige, ja fast schon aristokratische Kapitale, hier eine Stadt am Rande des Ruins, die mit sich selbst nicht so recht zurechtkommt. Dort die gehässigen Pariser Medien, die Marseille in regelmäßigen Abständen mit Hohn und Spott übergießen, hier eine Stadt, die dagegen rebelliert, die der Hauptstadt trotzig den Rücken kehrt, in Melancholie getaucht, eine Stadt, die von längst vergangenen Zeiten träumt, vom 19. Jahrhundert, um genau zu sein, als Marseille dank seines Hafens in voller Blüte stand, das Zentrum des französischen Weltreiches war und zu den reichsten Gegenden in Europa gehörte, von einer Zeit, da Napoleon der Dritte Marseille zur Hauptstadt seines Empires machen wollte.

200000 Menschen haben Marseille in den letzten zehn Jahren verlassen. In den Nordquartieren, wo 100000 Bewohner unter tristen Bedingungen hausen, gibt es 35 Prozent Arbeitslose. Die wirtschaftliche Situation ist katastrophal. Die Stadt ist schlecht drauf, der richtige Moment also, endlich mal vom anderen, faszinierenden, einmaligen Marseille zu sprechen.

Selbst die eingefleischten Marseiller staunten, als das Nachrichtenmagazin „Nouvel Observateur“ vor fünf Jahren Marseille zur Stadt mit der besten Lebensqualität in Frankreich erkürte. Schuld daran sind die Sonne, die hier an 300 Tagen im Jahr scheint, das saubere Wasser und der viele Platz, der jedem Einwohner gegönnt ist. Dass die großen Industriebetriebe pleite gegangen oder weggezogen sind, verhilft der Stadt im Verbund mit dem kräftig und häufig blasenden Mistral zu einer ausgezeichneten Luftqualität, obwohl die undisziplinierten, chaotischen und aggressiven Autofahrer mit in allen Lebenslagen laufenden Motoren alles tun, um ebendies zu verhindern.

Die Sonne ist das gratis verteilte Wunderheilmittel, das die meisten Bobos dieser Stadt kuriert, sie ist das beste Psychopharmakum gegen Depressionen aller Art. Unter ihren Strahlen an den einladenden Sandstränden der Stadt lassen sich auch Armut und Arbeitslosigkeit besser ertragen. Die Sonne schafft Stimmung und lässt die Menschen miteinander kommunizieren. Sie taucht die Fassaden und Gassen in immer neue Farben, sie wärmt unsere Körper und Seelen.

Um so schlimmer, dass ich auch nach sieben Jahren in Marseille noch jeden Sonnenaufgang verpasst habe. Es geht mir wie Mark Twain auf der Rigi, über dem Vierwaldstätter See in der Schweiz: Entweder verschlafe ich den richtigen Zeitpunkt, oder ich sitze auf der falschen Terrasse beim Katerfrühstück. Ich weiß noch immer nicht, wo hier die Sonne aufgeht.

Marseille ist ein Phänomen. Obwohl die zweitgrößte und älteste Stadt Frankreichs, ist von ihr eigentlich wenig zu sehen. Marseille ist ein kunterbuntes, lebendiges Gemisch von 111 Quartieren und kleinen Dörfchen, die alle ihre eigenen Strukturen und Zentren haben, die ihr eigenes Leben leben. Den typischen Marseiller, klischeekonform mit Pastis und Pétanque-Kugel, mit Gitanes und einer „grande gueule“, der großen Klappe, den gibt es gar nicht.

Natürlich ist er tagsüber Marseiller, und auch im Fußballstadion schlägt sein Herz für die Stadt. Doch am Abend, wenn er die „copains“, seine Kumpel, und die Familie trifft, dann verwandelt er sich wieder in den kleinen Buben, der stolz auf sein Quartier oder sein Dorf ist. In keinem Moment tummelt sich hier jemand in einer anonymen Millionenstadt.

Das mit der Million ist sowieso ein wenig übertrieben. Zwar war Marseille zu besseren Zeiten mal nahe dran an dieser Million, heute wohnen hier aber nur noch um die 700000 Menschen. Deren kleiner Hang zur dramatischen Übertreibung sei ihnen verziehen, das gehört hier zum täglichen Leben und zum lokalen Esprit.

Auch die alte Dame Marseille, im Moment etwas schwächlich auf der Brust, lebt ihren Hang zur Megalomanie aus, wann immer sie kann. Paris hat den Louvre und das Büroviertel La Défense, dafür hat Marseille mit dem Grand Littoral das größte Einkaufszentrum Europas. Olympique Marseille, OM, wird dank der Millionen von Adidas-Besitzer Louis Dreyfuss dieses Jahr nicht nur französischer Meister und damit Paris Saint-Germain weit hinter sich lassen, sondern selbstverständlich in der folgenden Saison auch den europäischen Champions-Cup nach Hause fahren. Dann wird der Vieux Port wieder explodieren und die Stadt für Wochen vor Freude taumeln.

Und dann haben wir ja auch noch das Projekt „Euroméditerranée“, das zur Zeit größte Städtebauprojekt ganz Frankreichs. Denn Marseille kämpft wild entschlossen darum, wieder zu alter Größe zurückzukehren, die Hauptstadt des Mittelmeers und all seiner Anrainerstaaten zu werden. Das erste Mal in fünfzig Jahren hat Paris seine Schatullen geöffnet und ein paar hundert Millionen nach Marseille überwiesen, um dem auf zwanzig Jahre angelegten Projekt zum Start zu verhelfen.

Euroméditerranée, das heißt: Ein 310 Hektar großes Stadtquartier zwischen dem Hafen und dem Bahnhof St.-Charles wird umgepflügt, 600000 Quadratmeter Büroraum und 6000 neue Wohnungen sollen hier geschaffen, 6000 alte renoviert und internationale Unternehmen mit Weltruf nach Marseille gelockt werden. Und dann ist da noch das 50000 Quadratmeter große Gelände direkt am Meer, auf dem die beiden großen Hangars J 3 und J4 standen. Zum Zeichen des Aufbruchs sind sie bereits demoliert. Hier soll eine Waterfront wie in Sydney oder Kapstadt entstehen und mit einem kühnen architektonischen Wurf jährlich wenigstens eine Million Besucher aus aller Welt anziehen. Die Suche nach internationalen Investoren hat begonnen.

„Ja, aber all diese Araber und Schwarzen, und dann die Kriminalität“, sagst Du und blickst noch immer überrascht und verunsichert. „Ja“, sage ich, „das gehört zu Marseille und zu seiner Geschichte.“ Mit dem Ende der französischen Kolonialherrschaft spülte das Meer nicht mehr Reichtümer aus aller Welt ans Land, sondern französische und moslemische Flüchtlinge aus Algerien und dem übrigen Maghreb. Zuvor kamen die Armenier, die dem Völkermord in Anatolien entfliehen konnten, dann die italienischen Antifaschisten, die wegen Mussolini emigrieren mussten. Marseille beherbergt heute rund 80000 Armenier und 80000 Juden, 80000 Nordafrikaner und 80000 Korsen. Dazu kommen die Chinesen und Vietnamesen, die Schwarzafrikaner und Griechen, neuerdings Bulgaren und Rumänen, Russen und Ukrainer.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 14. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Thomas Trüb und Nathan Beck

Autor Thomas Trüb, Jahrgang 1952, ist Journalist, war 1977 Mitgründer des Schweizer Wirtschaftsmagazins Bilanz und 1989 Gründungs-Chefredakteur des Wirtschaftsblattes Cash. Derzeit lenkt er das Osteuropa- und Asiengeschäft des schweizerischen Großverlages Ringier. Seit 1993 wohnt er in Marseille.

Nathan Beck, 1966 geboren, lebt als freier Fotograf in Zürich. Im Juni beginnt in Basel seine Stipendiatenausstellung Geistheiler in Afrika (Messe Basel, Halle 400). Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare

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Vita Autor Thomas Trüb, Jahrgang 1952, ist Journalist, war 1977 Mitgründer des Schweizer Wirtschaftsmagazins Bilanz und 1989 Gründungs-Chefredakteur des Wirtschaftsblattes Cash. Derzeit lenkt er das Osteuropa- und Asiengeschäft des schweizerischen Großverlages Ringier. Seit 1993 wohnt er in Marseille.

Nathan Beck, 1966 geboren, lebt als freier Fotograf in Zürich. Im Juni beginnt in Basel seine Stipendiatenausstellung Geistheiler in Afrika (Messe Basel, Halle 400). Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare
Person Von Thomas Trüb und Nathan Beck
Vita Autor Thomas Trüb, Jahrgang 1952, ist Journalist, war 1977 Mitgründer des Schweizer Wirtschaftsmagazins Bilanz und 1989 Gründungs-Chefredakteur des Wirtschaftsblattes Cash. Derzeit lenkt er das Osteuropa- und Asiengeschäft des schweizerischen Großverlages Ringier. Seit 1993 wohnt er in Marseille.

Nathan Beck, 1966 geboren, lebt als freier Fotograf in Zürich. Im Juni beginnt in Basel seine Stipendiatenausstellung Geistheiler in Afrika (Messe Basel, Halle 400). Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare
Person Von Thomas Trüb und Nathan Beck