Die Hanse als Leitbild

Wären die Politiker von heute nur so innovativ, risikobewusst, multinational und multikulturell wie die Kaufleute damals!

Die Ostsee – ein kleines Mittelmeer. Etwas größer als Deutschland, etwas kleiner als Schweden und mit durchschnittlich 52 Meter Tiefe so flach wie gelegentlich tückisch. Vor allem aber ein Meer, das zehn Staaten und Nationen auf natürliche Art miteinander verbindet. Aber was ist das exakt, die Ostseeregion, der Norden?

Technisch gesehen ist es eine Großregion, die aus verschiedenen Meeresregionen besteht: ganz im Norden die so genannte Nordkalotte (auch als Barentsregion politisch konstituiert) mit den Mikroregionen Nordnorwegen, Nordschweden, Nordfinnland und Nordwestrussland, nicht zu vergessen Island als Partner.

Die Kernregion besteht aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Nordpolen, Kaliningrad, den drei baltischen Republiken, Sankt Petersburg, den südlichen Regionen Finnlands, Schwedens, Norwegens und aus Dänemark.

So weit die politische Geographie. Zunächst einmal ist es die wechselvolle und doch immer gemeinsame Geschichte, die ein Bindeglied zwischen diesen Nationen des Nordens beziehungsweise ihren Regionen darstellt. Der frühe Kern des Gemeinsamen ist die Hanse, die Gemeinschaft der reisenden Kaufleute, die sich Mitte des zwölften Jahrhunderts konstituierte und urkundlich als „Hansa Alemanniae“ oder „Hansa Teutonicorum“ erwähnt wird. Diese Hanse nahm ein schnelles Wachstum und bestand in der Hochzeit aus 200 Mitgliedsstädten und 40 Kontoren und Faktoreien zwischen Brügge und Oslo, Newcastle und Nowgorod.

Die Faszination der Hanse ist leicht zu beschreiben: In einer mittelalterlichen, unglaublich engen Welt entstand eine absolut weltoffene Gemeinschaft von „universi mercatores“; sie waren für jene Zeit unvorstellbar innovativ, sie waren risikobewusst, waren zugleich multinational und multikulturell – eigentlich ein Leitbild für die heutige Zeit.

Verbindend waren aber immer auch die Mischreiche in der nordischen Geschichte. Die Herrschaftshäuser verbandelten sich weniger aus Liebe denn zur Festigung ihrer Einflüsse untereinander: die Dänen mit den Schleswigern und Holsteinern, die Schweden mit den Dänen und Norwegern, die Zaren mit den Gottorfern, die Mecklenburger mit den Dänen, Engländern und Preußen, die Polen mit Litauern und so fort – nichts war in jener Zeit unmöglich.

Zur Mitte des 14. Jahrhunderts übernahmen die reichen, selbstbewussten und weltoffenen Kaufleute die Ratsfunktionen in ihren Städten und machten aus der zunächst kaufmännischen nun auch eine politische Hanse. Der erste Sitz der Hanse war Visby auf Gotland, er wurde später verlegt nach Lübeck. Als Königin der Hanse stieg die Stadt hernach zu europäischer Geltung auf. Diese sorgfältig austarierte Machtkontrolle im Ostseebereich führte dazu, dass es praktisch keine dauerhaften politischen Dominanzen gegeben hat. Das hat sich bis in die heiße Phase der Weltkriege und die Zeit des Kalten Krieges fortgesetzt: Im Gegensatz zu Atlantik und Pazifik ist die Ostsee nie zu einem Kriegsmeer degeneriert.

Ohne Zweifel prägen diese geschichtlichen, aber auch die natürlichen Lebensumstände alle Menschen der Ostseeregion in einer bestimmten Weise. Das Land ist weit, und es verstellen kaum Berge die Sicht aufs Meer. Blauen Himmel haben viele, aber wer kann schon ein so vornehmes nordisches Himmelsgrau vorweisen wie wir? Was ist die stets laue Adria gegen die herrlich abhärtende Kühle der Ostsee? Und wen stört es, dass rheinischer Frohsinn in Mecklenburg-Vorpommern so verbreitet ist wie Dolce Vita in der finnischen Tundra?

Die Natur, die jahreszeitlichen Sonderheiten, das weite Land, das offene Meer, Schiffe und Häfen – sie haben mehr als nur marginale Ähnlichkeiten im gesamten Norden ausgeprägt. Ob Småländer oder Jüten, Mecklenburger oder Kaschuben, Holsteiner oder Karelier, Letten, Königsberger oder Friesen – sie sind eher bescheiden, bedächtig, ein wenig introvertiert, aber verlässlich. Außerdem, wie die Geschichte zeigt, enorm überlebensstark. Nordeuropäer eben, nicht nur geschichtlich, auch kulturell-ästhetisch verbunden. Und überlebensstark auch hier:

Wer je seltsame Würstchen mit dem Namen Pølser, wer je Bigos oder Barszcz oder Fischrogen namens Lörom aß – er begriff sofort, dass dies mit toskanischer Küche nichts gemein hat.

Wo sonst trinken Christenmenschen gekümmelte Kreszenzen namens Linie oder Jubiläum, die auf Island exakt als das beschrieben werden, was sie sind: der schwarze Tod. Wo erhält man zum Frühstück eine schwarzbraune Tinktur, die die Dänen als Gammelsdansk, die Letten als Balzam lieben? Dass das Hochprozenter für echte Nachfahren der Wikinger sind, merkt man nach dem ersten Schluck.

Wer Sibelius lauscht oder Grieg oder Ciurlionis, entdeckt keine Ähnlichkeiten mit dem Barbier von Sevilla. Hamsun lesen oder Reuter, Jaan Kross oder Theodor Storm, die Lagerlöf, selbst Sjöwall/Wahlöö – Tennessee Williams und Ernest Hemingway rücken in weite Ferne. Eine unverwechselbare Tradition wurzelt in Sagen, Geschichten und Liedern. Vom finnischen Kalevala-Epos zur estnischen Kalivipoeg-Saga, von der lettischen Bärentöterlegende zu den schwedischen Trollsagen, von friesischen Trutzliedern zu dänischen Kämpevisern – sie sind durchzogen von einer Kette ähnlicher Motive und Archetypen und Werthaltungen.

Dies alles hat, jenseits aller historischer Konflikte, den Kern einer nordischen Identität, wenigstens jedoch nordischer Identifikationen ausgebildet. Deshalb fühlen sich Kieler in Tallinn, Lübecker in Riga, Litauer in Helsinki nicht als Fremde, sondern quasi wie zu Hause.


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mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Ein Essay von Björn Engholm

Björn Engholm, geboren 1939, war von 1988 bis 1993 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Heute ist er vor allem in Sachen Kultur tätig, unter anderem als Kurator der Kulturkirche St. Petri Lübeck, als Beirat der Universität Lübeck sowie als Berater der Städte Wismar und Stralsund bei ihren Bemühungen, auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes zu gelangen.

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Vita Björn Engholm, geboren 1939, war von 1988 bis 1993 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Heute ist er vor allem in Sachen Kultur tätig, unter anderem als Kurator der Kulturkirche St. Petri Lübeck, als Beirat der Universität Lübeck sowie als Berater der Städte Wismar und Stralsund bei ihren Bemühungen, auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes zu gelangen.
Person Ein Essay von Björn Engholm
Vita Björn Engholm, geboren 1939, war von 1988 bis 1993 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Heute ist er vor allem in Sachen Kultur tätig, unter anderem als Kurator der Kulturkirche St. Petri Lübeck, als Beirat der Universität Lübeck sowie als Berater der Städte Wismar und Stralsund bei ihren Bemühungen, auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes zu gelangen.
Person Ein Essay von Björn Engholm