Die Freiheit, dem Meer zu lauschen

In Noten setzen, was das Meer zu sagen hat – Claude Debussy machte „La mer“ zum revolutionären Werk, das alle spätere Musik veränderte

Die Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente am Unendlichen teilhaben. Sie lebt in der Bewegung der Wasser, im Wellenspiel wechselnder Winde; nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang! Für den, der mit dem Herzen schaut und lauscht, ist das die beste Entwicklungslehre, geschrieben in jenes Buch, das von den Musikern nur wenig gelesen wird: das der Natur.“ Das schrieb der französische Komponist Claude Debussy, der in der Natur die Bestätigung für seine alles Traditionelle rigoros ablehnende Kompositionsweise fand. „Man kann musikalisch alles ausdrücken, was ein feines Ohr im Rhythmus der Welt, die es umgibt, wahrnimmt. Gewisse Leute wollen sich zuallererst nach Regeln richten. Ich für meinen Teil will nur das wiedergeben, was ich höre.“

Von 1903 bis 1905 schrieb Debussy im Burgund, fernab der Küste, aus „unzähligen Erinnerungen“ heraus sein heute beliebtestes und meistgespieltes Werk „La mer“, mit dem Untertitel „Trois esquisses symphoniques“, drei sinfonische Skizzen. Es wurde am 15. Oktober 1905 in Paris uraufgeführt. Ablehnung und Enttäuschung waren die ersten Reaktionen des Publikums. Die Musik sei zu wenig tonmalerisch, zu unrealistisch, man höre das Meer nicht rauschen, so war der Tenor der Kritik. Nun, das Ansinnen des Komponisten war ein vollständig anderes. 

Schon als junger Mann war Achille-Claude Debussy angewidert von der hierarchischen Dur-Moll-Harmonik, die auf dem Konservatorium gelehrt wurde. Er liebte Dissonanzen und überraschende Wendungen. Er kämpfte wild und wütend gegen den verknöcherten akademischen Musikbetrieb und entwickelte im Lauf der Jahre eine eigene musikalische Rhetorik, eine kühne, freie Klangsprache. Er vertonte Gedichte von Verlaine, Mallarmé und Baudelaire, bewunderte impressionistische Maler, vor allem die Farbkomposi­tionen von James Whistler und die Gemälde William Turners. Diese suchten, genau wie er, nach neuen Ausdrucksformen und wollten sich von ästhetischen Konven­tionen befreien. Debussy war einer der Mardistes, jener Künstler, die sich dienstags bei dem symbolistischen Dichter Stéphane Mallarmé in der Rue de Rome in Paris trafen und dem Meister lauschten. „Nicht den Gegenstand abbilden, sondern die Wirkung, die er hervorruft“, so formulierte Mallarmé seine poetische Maxime. Übertragen auf die Musik, hieß das für den Komponisten: mit musikalischen Mitteln poetische Bilder zu erschaffen, Stimmungen zu evozieren, die dem Zuhörer Raum geben für eigene Empfindungen. 

Bereits im dreisätzigen Orchesterwerk „Nocturnes“, entstanden in den Jahren 1897 bis 1899, hat er versucht, Eindrücke, die bei der Betrachtung des Meeres entstehen, in Musik zu übersetzen. „Nuages“, Wolken, und „Fêtes“, Feste, heißen die ersten beiden Teile. Zum dritten, „Sirènes“, Sirenen, in dem ein Frauenchor textlose Vokalisen singt, sagte er: „Sirènes: Das ist das Meer und seine unerschöpfliche Bewegung, über die Wellen, auf denen das Mondlicht flimmert, tönt der geheimnisvolle Gesang der Sirenen, lachend und in der Unendlichkeit verhallend.“

Debussy war fasziniert von der See. „Ich liebe das Meer, ich habe ihm zugehört mit dem leidenschaftlichen Respekt, den man ihm schuldet.“ Aus diesem Verhältnis heraus hat er eine Kompositionsweise entwickelt, die es ihm ermöglichte, das Element Wasser in seiner ständigen Verwandlung abzubilden. Anstelle musikalischer Themen, wie sie in einer klassischen Sinfonie zu Beginn vorgestellt und im weiteren Verlauf moduliert werden, erklingen in „La mer“ kurze musikalische Motive, die sich, wie Wassertropfen und Wellen, ständig verändern, anarchisch verhalten. Sie wandern durch die Instrumen­tengruppen, erklingen mal hier, mal dort, völlig unvorhersehbar. 

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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Elke Seifert

Elke Seifert machte nach dem Studium der Romanistik und Germanistik in Freiburg und Straßburg eine klassische Gesangsausbildung. Sie ist Autorin, Übersetzerin und Sängerin. Erfüllt von einer tiefen Sehnsucht pendelt sie ständig zwischen Küste und Schwarzwald.

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Vita Elke Seifert machte nach dem Studium der Romanistik und Germanistik in Freiburg und Straßburg eine klassische Gesangsausbildung. Sie ist Autorin, Übersetzerin und Sängerin. Erfüllt von einer tiefen Sehnsucht pendelt sie ständig zwischen Küste und Schwarzwald.
Person Von Elke Seifert
Vita Elke Seifert machte nach dem Studium der Romanistik und Germanistik in Freiburg und Straßburg eine klassische Gesangsausbildung. Sie ist Autorin, Übersetzerin und Sängerin. Erfüllt von einer tiefen Sehnsucht pendelt sie ständig zwischen Küste und Schwarzwald.
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