Die Fahrt der „Ai Sokula“

Eine Reise durch den Fiji-Archipel bringt den Zauber der Bücher Herman Melvilles zurück

„Leinen los“ war für acht Uhr abends angeschrieben. In Kreide auf dem schwarzen Brett mit den auslaufenden und anlandenden Schiffen. „But don’t forget: Fiji time“, hatte der Angestellte im Büro von „Wong Shipping Company“ hinzugefügt und lächelnd die Augenbrauen hochgezogen. Als ich eine halbe Stunde vor Abfahrt im Hafen erscheine – sicher ist sicher –, schwenken die Kräne zwischen Kai und Ladeluke des betagten Frachtschiffs geschäftig hin und her. Die Höhe der Warenberge auf der Mole lässt darauf schließen, dass es noch stundenlang so weitergehen wird. Fiji time?! – „Nicht vor Mitternacht“, bestätigt Captain Patemo.

Sonderlich vertrauenerweckend sieht sie nicht aus, die alte „Ai Sokula“. Schmuck schon gar nicht, eher wie ein Schwesterschiff der „Yorikke“, Travens Totenschiff: Schwarzer, rostbraun verschrammter Rumpf, ehemals (sehr ehemals) weiße Aufbauten, vor dem Steuerhaus ein betagter Kühlcontainer aufs Deck geklotzt, verbeulte Blechfässer dicht an dicht gepackt. Aber irgendwie gemütlich. Mein Heim für die nächsten zwei, drei Wochen. Wenn ich mich darauf einlasse. Noch könnte ich zurück.

Doch allein schon die Namen der Inseln, die wir anlaufen werden – Vanualévu, Taveúni, Lauthála, Jatháta, Naitaúmba, Kanathéa, Thikómbia-i-Lau, Vanuambalávu, Susúi, Mángo, Thíthia – sind Südsee pur. Ein Roundtrip durch die Gruppe der nördlichen Lau Islands. Anders kann man sie nicht kennenlernen. Landepisten gibt es kaum, Tourismus gar nicht. Warum will man da hin, wenn man dort nichts zu suchen hat?! Allenfalls, weil einem die fixe Idee im Kopf steckt, dieses ozeanische Land aus Hunderten Inselpunkten in unendlichen Meeresweiten ganz kennenzulernen – so gut einem Reisenden aus der anderen Welt das möglich ist. Und weil sie unwiderstehlich sind, die Inseln und ihre Menschen.

Die „Ai Sokula“ also. Eins von zahlreichen Cargoboats, die den Zusammenhalt zwischen Fijis äußeren Inselgruppen und dem wirtschaftlichen Zentrum, der Hauptstadt Suva auf Viti Levú, aufrechterhalten. Die Diesel für Generatoren liefern, Benzin für Bootsmotoren, Zement, Wellblech und Moniereisen, auch Zucker, Reis und Tee, Waschpulver, Seife und Rasierklingen, kurz: Gebrauchsgüter aller Art, von der Nähmaschine über Batterien fürs Radio bis zu Lollies für die Kids. Auch die werden gebraucht.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht zurück im Hafen, sicher ist sicher. Im grellen Flutlicht vor dem Schiff emsiges Gewusel: Die Großfamilien sämtlicher Crewmitglieder und Passagiere scheinen versammelt. Wo um alles in der Welt ich denn bliebe; man warte auf mich, hätte längst aus dem Hafen sein können! – Fiji time, lerne ich, dehnt sich nicht immer nur in eine Richtung. Mitunter, selten aber doch, ereignet sich etwas sogar zur angegebenen Zeit, und keiner weiß dann, wie das passieren konnte. Natürlich dauert es noch fast eine Stunde, ehe alle an Bord sind, die draufgehören, und alle runter, die nur fürs Goodbye gekommen waren.

Das vordem weite, leere Achterdeck hat sich in ein chaotisch vollgeräumtes Heereslager verwandelt. Rings um die Reling sind Flechtmatten ausgerollt, buntgeblümte Kissen und Decken ausgebreitet, Bastkörbe, Koffer, große Plastikbehälter, Pappkartons gestapelt, Bündel aus Taro, Bananen, Kava und Kokosnüssen gehäufelt. (Warum in diesem Land der Millionen Kokospalmen ständig Kokosnüsse von hier nach dort und von dort nach hier transportiert werden?! Ein pazifisches Mysterium.) Fröhliche Volksfeststimmung, Picknickatmosphäre, der Fremde ist ganz selbstverständlich einbezogen. Schade, dass ich Kabine – eine von zweien – gebucht habe. Die ist teurer, winzig, schwül und muffig; an Deck allerdings ist jeder Quadratmeter inzwischen belegt.

Pazifisches Reisen zur See verlangt eine gehörige Portion Fatalismus. Osea Namua hat genügend davon. Außerdem ein Damespiel, eine Gitarre sowie ein schier unerschöpfliches Repertoire an Liedern und guter Laune. Der junge Lehrer ist mit Frau und Kind auf dem Weg, seine Stellung als Headmaster auf Kanathéa anzutreten. Gäbe es eine direkte Schiffsverbindung, die Familie wäre in gut einem Tag am Ziel. So jedoch werden sie samt Kisten und Kästen und einem Lattenverschlag mit drei fröhlich quietschenden Ferkeln vier Tage unterwegs sein, denn ihre Insel steht erst als Nummer sechs auf der Route. Können aber auch zwei, drei Tage mehr werden. Falls ein Sturm aufzieht oder der Kapitän über Funk Order bekommt, eine zusätzliche Insel einzuschieben. „Waka malua“, sagt Osea und zieht lächelnd die Augenbrauen hoch. „So ist das nun mal.“

Langsam schiebt sich die „Ai Sokula“ durch die Harbour Bay, die Passage im umgrenzenden Riff ansteuernd. Suvas Lichter schrumpfen zur dünn glitzernden Lichterkette in der Dunkelheit. Die Nacht ist warm, windstill, wolkenlos, der Sternenhimmel funkelnd nah, vor dem Bug spritzen schon die ersten Fliegenden Fische über das Wasser, der Morgen kündigt sich an.

Irgendwann in der zweiten Nacht spüre ich im Schlaf eine Unruhe an Deck. Höre mit halbem Ohr merkwürdige Geräusche, Schritte und Rufe. Die Schiffsschraube stoppt. Erschreckt fahre ich hoch. Wusste ich’s doch, ein Maschinenschaden, was sonst: dieser Seelenverkäufer von einem Schiff! Wenn nicht gar auf ein Riff gelaufen: diese beschickerten Dilettanten! Auf der Brücke vorhin hatten verdächtig viele Bierflaschen rumgelegen. Und die Koro Sea ist berüchtigt für ihre heimtückischen Riffe. Von den Haien gar nicht zu reden. Wusste ich’s doch! Auf einmal bin ich sehr wach.

Dann höre ich es. Und das ist neu, nicht einzuordnen in den Kanon der schon vertrauten Bordgeräusche: Der Schiffsrumpf dröhnt. Er klickt und zwitschert und quietscht. Etwas spricht in Stimmen. Verwirrt raffe ich mich auf und klettere hoch. Auf dem Achterdeck stehen alle versammelt und schauen gebannt aufs nächtliche Meer. Vollmond und eine ruhige See, auf der in gleichmäßig glitzerndem Strickmuster kleine Wellen wandern. In diesem silbernen Licht. Und Stille ringsum. – Bis auf die singenden Stimmen aus dem Schiffsbauch. Oder der Tiefe des Meeres.

Wir sind eingekreist. Rings um die alte „Ai Sokula“ spielt eine Schule kleiner Wale. Dunkle, kofferförmige Köpfe, seufzende Atemfontänen, klatschende Schwanzflossen, sich elegant aufrichtend, in elegischem Schwung wieder versinkend. Und überall hin- und herpflügend schwellende Wasserbuckel. In diesem farblosen Zwischenlicht. Vor allem aber ihre Stimmen in der Stille: Die Wale sprechen und singen miteinander. Wir nehmen es weniger über die Ohren wahr, wir hören es mit den Füßen, aufsteigend im Körper, den Kopf füllend. Das Schiff vibriert, ein unterseeischer Resonanzboden. Good vibrations. – Jedoch, wir können nichts verstehen, geschweige denn antworten. Die Wale haben uns in ihre Mitte genommen. Uns aufgenommen? Wir stehen nur, schauen und hören. Irgendwann – keiner weiß am nächsten Morgen, wie lange die Verzauberung gedauert hat – sind sie es wohl leid, keine Antwort zu bekommen und weggesunken in die Tiefe, einfach so, all die vielen. – Captain Patemo seufzt, hebt die Augenbrauen, lächelt entschuldigend, befiehlt halbe Kraft voraus.

„That vessel is a mess“, sagt Iliseri, der Erste Offizier, sarkastisch trocken, nicht entschuldigend, nur konstatierend. Und hat recht: Das Schiff ist ein Saustall, will heißen, wir sind eine versiffte Junggesellenwirtschaft, wie sie im Buche steht. Ein Raum allerdings ist immer proper, sauber, blitzblank: Bei der Brücke kennen wir keinen Spaß. Dunkel glänzendes Furnier, blinkendes Messing, blitzende Scheiben. Der Kompass in seiner Glaskugel schwimmend, das große hölzerne Steuerrad im Zentrum, der altertümliche Maschinentelegraph, alles so nostalgisch wie effektiv. Der Stolz der gesamten Crew.

Diese Nächte auf der Brücke, unterwegs in der Koro Sea, von einer Insel zur nächsten! – Jeder, der nicht schlafen kann, taucht irgendwann hier auf. Steht und schaut hinaus, hoch über den Bug auf das dunkle Meer. Träge tröpfeln die Gespräche.


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mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Hans-Christof Wächter und Pellegrino Ritter

Hans-Christof Wächter ist Theaterregisseur und Autor und wohnt in Berlin. Land und Leute im Pazifik kennt er aufgrund zahlreicher längerer Aufenthalte in der Region. Für mare No. 1 schrieb er die Reportage über die Fahrt auf der „Queen Elizabeth II“ nach Amerika.

Pellegrino Ritter lebt als Maler und Illustrator von Büchern und Magazinen in Münster

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Vita Hans-Christof Wächter ist Theaterregisseur und Autor und wohnt in Berlin. Land und Leute im Pazifik kennt er aufgrund zahlreicher längerer Aufenthalte in der Region. Für mare No. 1 schrieb er die Reportage über die Fahrt auf der „Queen Elizabeth II“ nach Amerika.

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Person Von Hans-Christof Wächter und Pellegrino Ritter
Vita Hans-Christof Wächter ist Theaterregisseur und Autor und wohnt in Berlin. Land und Leute im Pazifik kennt er aufgrund zahlreicher längerer Aufenthalte in der Region. Für mare No. 1 schrieb er die Reportage über die Fahrt auf der „Queen Elizabeth II“ nach Amerika.

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