Die Fäden des Schicksals

Englands Eroberung durch die Normannen im Jahr 1066 war eine Zeitenwende – und Auslöser eines nachhaltigen Traumas

Vielleicht lernt man in dem Saal eines ehrwürdigen Gemäuers in der Normandie über Frank­reichs und Englands Geschichte mehr als in einem Proseminar. Das sagen sich auch die Lehrerinnen und Lehrer, die tagtäglich ihre Klassen in das alte bischöfliche Seminar von Bayeux  führen – zu einem Unterricht in Form einer Bild­ge­schich­te, einem Comic nicht unähnlich, wie gemacht für die visuelle Generation der digital natives. Entstanden ist sie aber, beinahe paradox, vor fast 1000 Jahren, im Hochmittelalter. 

Die Bilder schildern auf einer fast 70 Meter langen Stoffbahn den Streit um den englischen Thron und die daraus folgende normannische Invasion Englands im Jahr 1066. Sie sind das wichtigste Zeugnis des Geschehens in jenem Schicksalsjahr, nicht nur für Frankreich und England, sondern für ganz Europa. Als wäre es nicht genug, sind sie zugleich das bedeutendste erhaltene Kunstwerk des Mittel­alters, das wir leichthin das „fins­te­re“ nennen, ein unsterblicher Mythos einer verfälschenden neuzeitlichen Geschichtsbetrachtung.

DAS KUNSTWERK 
Der „Teppich von Bayeux“ ist eigentlich die „Stickerei von Bayeux“ – ein Leinentuch, um 50 Zentimeter breit und etwas mehr als 68 Meter lang, in neun Teilen, der längs­te 14, der kürzeste drei Meter lang. Darauf gestickt, mit nahezu einem Zentner farbiger Woll­fäden, sind 58 Bildszenen. Die ersten 35 schildern die vertrackte Vorgeschichte und die Vorbereitung der Invasion seit 1064, die folgenden die Überfahrt der normannischen Flotte 1066, die entscheidende Schlacht bei Hastings im selben Jahr und schließlich Niederlage und Flucht der geschlagenen Engländer und den Tod ihres Königs. Es fehlen Schlussszenen, die ursprüngliche Länge des Tuchs ist daher unbekannt. Das Hauptfries haben die Vorzeichner der Stickerei (von denen man annimmt, dass sie die Ereignisse erlebten) am oberen und unteren Rand mit einer Borte ver­sehen, die die Erzählung schmückt, aber an manchen Stellen auch Teil von ihr ist. 

Der Zustand ist beklagenswert – Flickstellen und Spuren von Rost, Mikroorganismen, Wachs (die bezeugen, dass der „Teppich“ im Langhaus der Kathedrale von Bayeux zeitweilig als Wandbehang diente) und stümperhaften Reinigungsversuchen. 

Entstanden ist er einige Jahre nach den dargestellten Ereignissen, zwischen 1070 und 1080, vermutlich in Südengland, wohl von höfischen Stickerinnen. Sie müssen die besten gewesen sein, die Europa hatte, denn die tapisserie de Bayeux ist in ihrer handwerklichen Feinheit, ihrer Subtilität und künstlerischen Ausdruckskraft sin­gulär. Keine andere Stickerei des 11. und 12. Jahrhunderts hat die Zeitläufte in Nord- und West­eu­ro­pa überstanden. 

Und so ist die tapisserie ein Bilddokument, das unzählige Fragen ans Mittelalter beantwortet – nicht nur über die Invasion, auch über Alltag, Gewohnheiten, Essen und Trinken, Sexualität, Frisur- und Bart­mode, Kleidung, Waffen, Transport, Architektur, Schiffbau und so fort. Das Bestia­rium in den Borten reicht von Haustieren über wilde bis zu exotischen wie Kamele. Die lateinischen Inschriften an den Szenen sind lapidar; oft sind es nur Personen- oder Ortsnamen, dann wieder kurze Sätze, die mit „Hic …“ („Hier …“) beginnen wie „Hier ziehen sie die Schiffe zum Meer“ oder „Hier wird Fleisch gekocht“. 

Und dennoch, bei allem Detailreichtum lässt uns das monumentale Werk über vieles im Unklaren, es ist voller Rätsel und Mysterien. Jahrhunderte ver­schlief es im trésor der Kathedrale von Bayeux, unterbrochen von Zeiten der Misshandlung, am heutigen Ort ist es seit 1982, ge­adelt als Weltdokumentenerbe. Geforscht wird daran seit dem 18. Jahrhundert, doch weiß man weder, wann und wo genau es entstanden ist, noch, wer es beauftragt hat und angefertigt und weshalb überhaupt. 

Die Präsentation macht ehrfürchtig, sie macht das Epochale des Werks spürbar. Der Gewölbesaal des Seminars mit drei langen Gängen, die sich zu einem riesigen U formen, ist dunkel und feierlich, sakral. Hinter Panzerglas hängt das Tuch auf einer Pols­te­rung, klimatisiert und effektvoll beleuchtet wie eine Reliquie, beinahe trans­zendent – eine Inszenierung, wie sie nur die lateinische Welt beherrscht. Still gehen die Besucher von einer Szene zur nächs­ten, geführt vom Audioguide. Dem Sog der Erzählung können sich selbst Kinder nicht entziehen, sie stehen mit großen Augen vor dem seltsamen Comicstrip. 

DIE INVASION 

Ihre Geschichte ist windungsreich, komplex, und sie handelt von Macht, Versprechen und Verrat, von Rache und Ranküne, vom Kampf der Raffinesse des frankonormannischen Hö­fi­schen gegen die archaische Wucht des Angelsächsischen. Wer das Mittelalter für fins­ter hält, muss wenigstens konzedieren, dass seine Machtpolitik höchst ent­wickelt war und der Neuzeit in nichts nachsteht. 

Und so kam es zu den Ereignissen von 1066: Der Zerfall des Frankenreichs nach dem Tod Karls des Großen führte zur Dreiteilung des Gebiets. Die Könige des Westteils, des Westfränkischen Reichs, über­ließen große Territorien als Herzogtümer ihren Vasallen, die sich im Gegenzug zur Treue verpflichteten. Dazu gehörte auch das Herzogtum Normandie, das sich 911 mit einem Vertrag zwischen König Karl III. und dem Wikingerhäuptling Rollo begründete und nach dem Volk der Normannen nannte. 

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 156. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.


mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Karl Spurzem

Karl Spurzem, ist stellvertretender mare-Chefredakteur und Textchef.

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