Die erste Fahrt der „Andrea Doria“

Ah, diese Linien, seufzten die Sehleute, so ein elegantes Schiff. Und unter Deck? Da besticht es durch den höchsten Komfort. Ein Besuch bei Passagieren der ersten Reise

„Pazienza! Pazienza!“ rufen die Stewards wieder und wieder. „Geduld! Geduld!“ Noch ist die Gangway abgesperrt, noch darf niemand an Bord. Nur die Blicke gehen vom Kai hoch an Deck, wo die Offiziere stehen in ihren dunklen Uniformen. Ehrfürchtig, staunend, sehnsüchtig, stolz betrachten die Menschen das Schiff: die Passagiere, die wenigen Glücklichen, die sich in die Warteschlange einreihen, und die Genuesen, die vielen Jubelnden, die sich im Hafen und auf den Straßen drängen, aus Fenstern lehnen und auf Dächer steigen, um das Auslaufen des neuesten und modernsten Ozeandampfers der italienischen Schiffahrtslinien zu beobachten, dieser schwimmenden Schönheit, der „Andrea Doria“.

Endlich, am Nachmittag des 23. Dezember 1952, pünktlich um vier Uhr ist es so weit. Abfahrt von Genua. Die Sonne lässt das Schiff erstrahlen, schwarz der Rumpf, weiß die Aufbauten, 213 Meter lang und 28 Meter breit, mit Fähnchen geschmückt gleitet die „Andrea Doria“ durchs Wasser. Die Bordkapelle trompetet, das Hafenorchester trompetet, die „Andrea Doria“ tutet, die Begleitschiffe tuten, hoch spritzen die Wasserfontänen der Lotsen- und Feuerlöschboote, und die Daheimgebliebenden klatschen und winken, schwenken Tücher in den italienischen Farben und rufen den Reisenden hinterher: „Ciao!“

„Es ist eine Szene“, schreibt der österreichische Journalist Adam Wandruszka, „die in ihrem spontanen Enthusiasmus, in der Freude über eine Wiederauferstehung so ergreifend wirkt, dass sie selbst Nichtitalienern, Amerikanern, Deutschen, ja selbst den nüchternen Schweizern einen feuchten Schimmer in die Augen treibt.“

Gefeiert wird die Auferstehung der italienischen Passagierschiffflotte mit einem Luxusliner, der an die glanzvolle Tradition vor dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen soll. Die „Andrea Doria“, in der berühmten Ansaldo-Werft von Sestri gebaut, beeindruckt mit Zahlen: 29083 Bruttoregistertonnen, 1250 Passagiere, 23 Knoten. Sie besticht durch Komfort: Eine Klimaanlage sorgt für angenehme Temperaturen an Bord, eine Garage bietet Platz für 50 Wagen und ist sogar direkt vom Kai befahrbar. Geliebt aber wird die „Andrea Doria“ wegen ihrer Eleganz. Sie durchschneidet die Wellen mit scharfwinkligem Bug, stromlinienförmig ihr Körper, statt langer, monströser Schlote ragt ein einzelner, elliptischer Schornstein in den Himmel.

Italienische Admiräle, Großindustrielle, Reeder, Banker, der ehemalige Marineminister, der Direktor der Ansaldo-Werft und Angehörige des oberitalienischen Hochadels sind an diesem Dezembertag aufgebrochen zu einer crociera del sole, einer 14-tägigen „Sonnenkreuzfahrt“. Von Genua nach Casablanca, weiter zu den Kanarischen Inseln, nach Madeira, Lissabon, Cádiz und zurück durchs Mittelmeer wird die Reise gehen. Für die „Andrea Doria“ ist die Ausfahrt Einweihung und Testlauf zugleich, bevor sie im Januar 1953 die offizielle Jungfernfahrt nach New York antritt. Denn der Ozeanriese soll künftig den Nordatlantikdienst der Italia-Linie übernehmen. Noch aber geht es nur ums Vergnügen. Die High Society aus Genua und Rom amüsiert sich umsonst, das wohlhabende Bildungsbürgertum aus dem Ausland zahlt gern dafür.

Vierzehn Tage vorher hatte bei Brigitte Stampfli das Telefon geklingelt. „Wir haben Karten für die Andrea Doria!“, sagte die Mutter. „Besorg dir unbedingt ein Cocktailkleid.“ Also zog Brigitte, 18 Jahre alt, Schülerin der Kantonalen Handelsschule für Mädchen in Lausanne, mit der Patentante los. Die Tante war es, die das Kleid entdeckte: silbern schillernd, luftig, ärmellos. Viel zu glänzend, viel zu auffallend fand es Brigitte, gut erzogene Tochter eines Züricher Elektroingenieurs. Doch die Tante meinte, das sei jetzt Mode, das mache jung.

In Wien schmollte zur gleichen Zeit ein blonder, zehnjähriger Junge. Zu Hause wollte Veit Pranter Weihnachten verbringen, nicht irgendwo in der Fremde. „Gut“, sprach der Vater, „dann nehmen wir unseren Christbaum eben mit aufs Meer, und die Geschenke auch.“ Er band das Bäumchen zusammen, einen halben Meter war es hoch, und steckte es in seinen Lederrucksack. So kam es, dass sich die Pranters mit roten Kugeln, einem kleinen Holzesel und einer Krippe im Gepäck einschifften.

„Erzählt nichts im Dorf!“, hatte das Ehepaar Fey seine Söhne ermahnt. „Nichts von der Andrea Doria.“ Zum ersten Mal durften die Jungs mit den Eltern auf große Reise gehen. Doch die Schweizer Schulkameraden wussten nur: Die Fey-Buben müssen sich von einer schweren Grippe erholen. Die Lüge war Schutz. Nichts Besonderes sollten seine Kinder sein, fand der Vater. Dabei waren sie als Söhne des Lackfabrikanten in St. Margrethen durchaus etwas Besonderes.


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mare No. 52

No. 52Oktober / November 2005

Von Sandra Schulz und Walter Studer

Für Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Gesellschaft und Politik, war die Recherche echte Puzzlearbeit: ehemalige Passagiere finden, Zeugenaussagen vergleichen, historische Zeitungsartikel auftreiben.

Der Fotograf Walter Studer (1918– 1986) lebte in Bern. In den fünfziger Jahren war er viel unterwegs – doch nie ohne seine Rolleiflex.

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Vita Für Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Gesellschaft und Politik, war die Recherche echte Puzzlearbeit: ehemalige Passagiere finden, Zeugenaussagen vergleichen, historische Zeitungsartikel auftreiben.

Der Fotograf Walter Studer (1918– 1986) lebte in Bern. In den fünfziger Jahren war er viel unterwegs – doch nie ohne seine Rolleiflex.
Person Von Sandra Schulz und Walter Studer
Vita Für Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Gesellschaft und Politik, war die Recherche echte Puzzlearbeit: ehemalige Passagiere finden, Zeugenaussagen vergleichen, historische Zeitungsartikel auftreiben.

Der Fotograf Walter Studer (1918– 1986) lebte in Bern. In den fünfziger Jahren war er viel unterwegs – doch nie ohne seine Rolleiflex.
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