Die erstaunliche Hitze des Südpolarmeeres

Edgar A. Poe und Jules Verne schrieben phantastische Geschichten. Vieles davon wurde später Realität

Eist man auf dem Südmeer dem Pol entgegen, tritt in aller Regel zwischen dem 50. und 60. Breitengrad ein plötzlicher, drastischer Wechsel in den klimatischen Verhältnissen ein. Undurchdringliche Nebel, eisige Stürme, die peitschend übers Meer fegen (die rauesten der Welt) und Wellen bis zu 30 Meter Höhe aufwerfen – Alptraum für jeden Seemann –, beständige Feuchtigkeit und Nässe, die in jede Ritze, jeden Spalt, jede Pore dringen: die Polarfront. Einige 100 Kilometer dahinter beginnen Packeis, Schelfeis – und der düsterste, einsamste, kälteste, lebensfeindlichste Ort der ganzen Erde: der antarktische Kontinent. Unendliche Eiswüsten, Minustemperaturen von bis zu 90 Grad, nicht enden wollende, tosende Sturmwinde, nirgends Leben – die einzigen Lebewesen, die im antarktischen Binnenland zu existieren vermögen, sind Insekten, die für wenige Tage im Jahr aus eisigem Schlaf auftauen, in aller Eile ihre Lebensfunktionen erfüllen und anschließend erneut einfrieren. Das ist alles. Als William Smith 1820 (wenige Tage nach Bellingshausen) als zweiter Entdecker Antarktika erblickte, schrieb einer seiner Offiziere angesichts der Eiswüste kurz und knapp in sein Tagebuch: „Der düsterste Anblick, den man sich vorstellen kann.“ Was bei klarem Wetter im lichten Halbjahr mitunter berauschend schön erscheinen kann, ist nichts anderes als eine Hölle aus: Eis, Eis, Eis.

Eis, Eis, Eis? Bei Edgar Allan Poe, präziser: in seiner „Geschichte von Arthur Gordon Pym aus Nantucket“, liest sich das freilich – nur 18 Jahre nach Bellingshausen und Smith – überraschend anders.

Ein authentischer Entdeckerbericht soll sich hinter dem Titel verbergen; von einem Mann ist da die Rede, der eines Tages in Richmond, Virginia, aufgetaucht und in bezug auf bestimmte Punkte seines Lebens außergewöhnlich zurückhaltend gewesen sei. Erst auf hartnäckiges Drängen von verschiedener Seite im allgemeinen und Poe im besonderen habe er sein Geheimnis offenbaren wollen: der erste Mensch am Südpol gewesen zu sein, Überlebender einer ganz und gar gescheiterten, der Welt völlig unbekannt gebliebenen Expedition, randvoll angefüllt mit überwältigenden, verblüffenden Erlebnissen und Erkenntnissen.

Als abenteuerhungriger junger Mann, wird uns berichtet, habe er sich 1827 als blinder Passagier auf einen Walfänger geschlichen, sei auf hoher See in Meuterei, Schiffbruch und Kannibalismus geraten und zuletzt aus höchster Seenot von einem Schoner namens „Jane Guy“ gerettet worden, dessen Kapitän als Eigner des Schiffs auf Robben und – einer Herzensneigung folgend – auf Entdeckungen aus war. Da es mit dem Robbenfang nur schleppend vorangeht, lockt den Kapitän ein gewichtigeres Ziel: der Südpol. Der junge Pym ist mit Feuereifer dabei. Zwischen dem 65. und 75. südlichen Breitengrad trifft die „Jane Guy“ auf das unvermeidliche Packeis, wagt sich aber todesmutig in schmale Rinnen, laviert erfolgreich, bis sie einen Durchschlupf findet und jenseits des Packeises auf ein offenes, schließlich völlig eisfreies Meer trifft. Nicht nur das! Je weiter sie anschließend nach Süden segeln, desto stärker steigen Luft- und Wassertemperaturen. So verblüffend uns diese Vorstellung heute anmuten mag, zu Poes Zeit wurde sie ernsthaft diskutiert.

Als er Pyms vermeintlichen Bericht begann (denn die behauptete Authentizität ist natürlich eine listenreiche Verbrämung), war die Antarktis noch ein weißer Fleck auf der Landkarte, terra incognita. Cook (1773/74), Bellingshausen (1820) und Smith (ebenfalls 1820) waren auf undurchdringliche Eisbarrieren rund um die Antarktis gestoßen, die sie immer wieder nach Norden gezwungen und die die Vorstellung von einem möglicherweise sogar unzugänglichen Eispol begründet hatten. Doch zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts überraschten zwei Polarmeerexpeditionen mit Erfahrungen, die mit den bisherigen Berichten von Packeis, Nebeln, Eisküsten nicht recht vereinbar schienen. 1822 war James Weddell mit zwei Schiffen weiter nach Süden vorgedrungen als je ein Seefahrer zuvor und dabei nach zwischenzeitlicher Umlagerung von Eis auf einem fast völlig eisfreien (dem heute nach ihm benannten) Meer gesegelt. Und ein Jahr später überquerte Benjamin Morrell, der in Pyms Bericht verschiedentlich als Autorität erwähnt wird, den 70. südlichen Breitengrad und notierte in sein Logbuch: „Ich habe den Südpolarkreis wiederholt in verschiedenen Längen passiert und stets gefunden, dass Luft und Wasser immer milder werden, je weiter man sich über den 65. Grad hinauswagt.“

War es möglich, dass die scheinbar undurchdringliche Eiswüste, als die man die Antarktis anzusehen begann – einzig noch uneins über die Frage, ob es sich bei ihr lediglich um ewiges Eis wie in der Arktis oder um einen Kontinent handle –, am Ende nichts anderes als eine überwindbare Eisbarriere war, hinter der die Temperaturen gen Süden fortwährend anstiegen? Stand die Entdeckung einer eigenen Welt, einer Welt hinter der bekannten Welt bevor? Die Möglichkeit faszinierte Poe, beflügelte seine Phantasie zu allerlei Spekulationen, in denen er literarische, phantastische, mythische und Motive der Ent- deckungsgeschichte, vornehmlich der Südsee und Arktis, mit seiner Vorliebe für Grenzsituationen, Grauen und Tod verwob.

In 83 Grad südlicher Breite – so die Vision – stößt die „Jane Guy“ auf eine Gruppe von Inseln, deren eine von pechschwarzen, feindlich gesinnten Eingeborenen bewohnt wird, die die Besatzung in einen Hinterhalt locken und töten. Nur Pym und zwei weiteren Männern gelingt in einem Boot die Flucht, und die starke südliche Strömung treibt sie, umgeben von den endlosen Weiten eines verwirrenden Ozeans, in Richtung Südpol: „Die Hitze des Wassers wurde erstaunlich, seine Farbe ging von Transparenz zu milchiger Weiße und Dichte über; aus den Tiefen des Ozeans hob sich glimmender Schein und stieg leuchtend an den Flanken des Bootes herauf. Beständig fiel in ungeheuren Mengen weißer Aschenregen auf uns nieder. Eine lichtgraue, gewaltige Dunstwand begann hoch überm Horizont deutliche Gestalt anzunehmen, wie ein auf keiner Seite begrenzter Wasserfall, der sich schweigend von irgendeiner riesenhaften Zinne des Himmels ins Meer ergießt. Ungeheure, gespenstisch bleiche Vögel flogen unablässig aus jenem Schleier hervor.“ Auf diesen Katarakt treibt das Boot zu, als sich, wie aus dem Meer geboren, plötzlich eine riesenhafte, verhüllte, weiße menschliche Gestalt erhebt – und der Roman unvermittelt abbricht. Es sei, berichtet Poe im Nachwort, Pym durch einen tödlichen Unfall nicht mehr vergönnt gewesen, die abschließenden Kapitel seines Berichts niederzuschreiben, der Tod habe das Ende dieser Reise und die Auflösung der nachfolgenden Rettung für immer mit sich genommen.


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mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Michael Klein

Michael Klein, Jahrgang 1960, studierte Philosophie und Germanistik und arbeitet als freier Autor für Rundfunk, Zeitschriften und Verlage.

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