Die Elbe-Piloten

Die Lotsen von der „Kapitän Hilgendorf“ – ihr Arbeitsplatz liegt in der Deutschen Bucht, und ihr Taxi heißt Versetzboot

Das Meer schweigt am lautesten. Kein fester Punkt antwortet dem Auge. Die See ist nur bei Windstille stumm. Sanft wie der Mond gießt heute abend die Sonne ihr blaßrotes Licht über einen Ozean aus Blei. Keine Kräuselung durchbricht die zähe Legierung, in der die Zeit selbst steckenzubleiben scheint.

Mühselig schwingt der altertümlich hochgezogene Bug der „Kapitän Hilgendorf“ durch die Stille. Hin und her. So langsam, als löste sich das Schiff in einem Trugbild auf, als müsse es wie der Sonnenball am Horizont sogleich mit Mann und Maus verschwinden. Abende wie dieser 1.Mai sind selten in der Deutschen Bucht. Kapitän Bienert umklammert die Reling auf der Brückennock und späht mit zugekniffenen Augen in die Ferne. „Ich hasse Feiertage“, sagt er. Kein Schiff taucht aus der Silberfläche auf.

Die „Hilgendorf“ ist einer der antiquierten Dampfer, die jeweils zu zweit als schwimmende Lotsenstationen vor der Elbmündung treiben. Hier ist für Seeschiffe ab einer bestimmten Größe Pflichtstation: Weit draußen vor der Elbe, auf halbem Weg nach Helgoland, verläßt der Lotse das von Hamburg kommende Schiff, das er durch die unberechenbaren und stets sich wandelnden Sande und Untiefen der Elbmündung geleitet hat. Bis den Lotsen dann das nächste Schiff wieder elbaufwärts mitnimmt, muß er auf einem der fast 40 Jahre alten Dampfer ausharren. Zwei weitere Stationsdampfer liegen vor der Weser, einer vor der Jade-Einfahrt nach Wilhelmshaven.

Das Wort „Lotse“ steht in riesigen Lettern auf den Bordwänden der Kähne, die mit ihrem hohen Steven und dem umlaufenden Decksgang einer längst vergessenen Seefahrt zu entstammen scheinen. Die Schiffe wirken wie Relikte aus einer Epoche, mit der alles zum Stillstand gekommen ist. Wie Fetische erlauben sie die Transformation: Wer auf ihnen landet, wird beinahe selber Teil des unvergänglichen Ozeans. Die See ist die große Gegenspielerin der Zeit, und die „Hilgendorf“ ist ihre menschengemachte Verkörperung. Ab und zu quirlen ein paar Schraubendrehungen das träge Wasser hinter dem Heck. Sonst heißt es Warten, Warten, Warten – bei jedem Wetter, bei Tag und bei Nacht. „Und von Oktober bis März haben wir nur Mist“, klagt Bienert über den Nebel.

Doch ohne die wackeren Dampfer käme auch jetzt noch, im Zeitalter von Radar und Satellitenpeilung, kein Schiff sicher das ewig wechselhafte Fahrwasser der Elbe hinauf. Allerdings, diese Ära der Seefahrt neigt sich ihrem Ende zu: Moderne Fahrzeuge sollen die „Dampfer“ ablösen, wie sie von den Kollegen genannt werden, obwohl sie mit Diesel fahren.

In der Lotsenmesse der „Hilgendorf“ läuft der Fernseher. Die Tagesschau, dann ein Krimi. Wäre nicht das Wasser draußen, die stetige sanfte Bewegung, könnte das hier auch eine Kneipe sein, in der seit Jahrzehnten alle Uhren stillstehen. Die Wartenden hängen in den durchgesessenen, quietschenden, blauen Polstern. Manche starren abwesend zum Fernsehbild, andere blättern in Illustrierten. Die Unterhaltung ist schleppend. So eine Bordunterhaltung eben, in der jeder jeden kennt und man sich bald nicht viel mehr zu sagen hat als „Mahlzeit“, einmal beim Hinsetzen an den schwankenden Tisch und wieder beim Aufstehen.

Immerhin hat der „Schtuat“ zum Abendbrot Currywurst serviert, dazu ein Bier, so läßt sich das Warten ertragen. Die „Hilgendorf“ ist „Ausholer“: Das Schiff übernimmt die Lotsen der seewärts gehenden Schiffe. Erst wenn die Messe voll ist, tauscht der Dampfer seine Position mit dem Schwesterschiff, der „Kommodore Ruser“, und gibt dann als „Versetzer“ die angesammelten Männer der Reihe nach an hereinkommende Schiffe ab.

Wer als erster auf dem Ausholer landet, muß Geduld haben. Und heute sieht es nicht so aus, als käme man schnell wieder weg. Aber wenigstens ist das Meer ruhig. Denn auch Lotsen reihern bei Seekrankheit: „Wenn wir Pech haben, müssen wir 24 Stunden Wartezeit bei Schlechtwetter auf dem Dampfer abreiten“, sagt Lotse Timmermann und streckt sich. Der hagere Mann mit den durchdringenden Augen im glattrasierten Gesicht macht sich auf eine lange Nacht vor dem Fernseher gefaßt.

Lotsen gibt es, solange Menschen zur See fahren. Auf der Elbe läßt sich das Gewerbe des „Leytsmannes“ bis zum Mittelalter, der Zeit der Hanse zurückverfolgen. Die ersten Elblotsen waren Fischer von den Inseln Neuwerk und Helgoland. 1656 erließ die Hamburger Admiralität nach holländischem Vorbild ihre erste „Pilotageordnung“, um die häufigen Havarien in der Elbe zu verringern. Zwei Lotsen-Galeoten, kleinere Einmaster mit der Hamburger Flagge im Top, hielten nun ständig vor der Elbmündung Position.

Seitdem hat sich wenig geändert. Auf dem Weg zum Stationsschiff (erst seit den 20er Jahren ein Dampfer) gilt es noch immer, auf schwankender Strickleiter an der Bordwand in ein winziges Boot hinabzuklettern, das bei Sturm wie ein Stück Holz auf den Wellen tanzt. Die Plane am Bug schützt eher schlecht als recht gegen überkommende Seen. Fünf Knoten laufen die zerbrechlichen Dinger, kaum mehr als die Ruderboote und Segeljollen vergangener Jahrhunderte. Im Lotsendienst der Deutschen Bucht – dem am dichtesten befahrenen Seegebiet der Welt – herrscht noch immer Barock.

Nur die Bordwände sind höher geworden. „Das darf doch nicht wahr sein“, schießt es einem durch Kopf und Körper, wenn man von der Lotsenpforte eines großen Frachters abwärts aufs Wasser blickt. Endlos weit unten scheint da das winzige Boot zu hüpfen. Da runter? Noch umfangen vom High-Tech-Ambiente eines Großfrachters, wirkt die baumelnde Strickleiter an der kalten Stahlwand wie ein Alptraum. Doch die Leiter ist Realität, handgreifliche Realität.

Lotse Breuer zögert keine Sekunde. Rasch turnt er die Sprossen hinab, von Kopf bis Fuß in blaues Ölzeug gehüllt, die Reisetasche quer über dem Rücken. Den richtigen Augenblick abgepaßt, und schon steht er breitbeinig im Versetzboot, lässig an die Haltestange gelehnt. Hat er Angst, so dicht am nassen Element? „Überhaupt nicht“, raunzt er verächtlich, als wäre schon die Frage eine Unterstellung von Feigheit.

Nicht die Gefahr, nein, das Nichtstun zermürbt auf See. In der Anspannung tickt die menschliche Lebensuhr ihren kraftvollen Rhythmus. Aber im Stillstand verschwimmen die Augenblicke, und wir Menschen verlieren unsere Form, bedroht, als winziger Tropfen mit dem Meer zu verschmelzen. Zum Aushalten verdammt zu sein, das beschwört finstere Phantasien herauf. Kaum auf der „Hilgendorf“, irrlichtert Breuer durchs Schiff – mit dem koboldhaften Bart eines Klabautermanns. Und wäre es nicht möglich, daß er in diesem Dampfer mit seinen seltsam altertümlichen Bullaugen, Ecken und Winkeln, in denen alle Widrigkeiten der See zu lauern scheinen, irgendeinen Zauber anrichtet? Einen Sturm heraufbeschwört?

Aber damit hat Breuer nichts im Sinn. Seine klönenden Mitstreiter in der Plüschmesse verläßt er bald. Er stapft durchs Schiff, genervt vom Warten, gierig auf Taten, auf die Land-, auf die Menschenwelt. Auch der Massenschlafsaal mittschiffs unter der Wasserlinie lockt ihn noch nicht. Der Raum mit 24 Doppelstockkojen ist als „Lotsenvernichtungsanlage“ verschrien. „Wenn das hier richtig voll ist und alle schnarchen und furzen, kriegst Du kein Auge zu“, beschwert sich ein Kollege Breuers.

Die Viererkammern achtern sind nicht viel besser. Schon im engen Niedergang hört man dumpf das Kielwasser gurgeln. „Hotel zur Schraube“ nennen die Lotsen den dunklen Verschlag und ziehen es dann doch vor, sich in der Messe herumzudrücken. Aber auch dort ist die Stimmung nicht mehr wie in den glorreichen Tagen: „Früher haben wir hier bis um sechs Uhr Skat gespielt“, sagt einer.


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mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Andreas Weber und Marc Steinmetz

Andreas Weber, Jahrgang 1967, studierte Meeresbiologie und Philosophie, arbeitet als freier Journalist und schreibt derzeit in Paris seine Dissertation. In mare No.3 besprach er James Hamilton-Patersons Buch Wasserspiele.

Marc Steinmetz, 1964 geboren, ist Grafikdesigner und arbeitet seit drei Jahren als freier Fotograf in Starnberg. 1998 wurde er für eine Fotoreportage über den Heidelberger Anatomen Gunther von Hagens mit zwei World Press Photo Awards ausgezeichnet. Dies ist seine erste Arbeit für mare

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Vita Andreas Weber, Jahrgang 1967, studierte Meeresbiologie und Philosophie, arbeitet als freier Journalist und schreibt derzeit in Paris seine Dissertation. In mare No.3 besprach er James Hamilton-Patersons Buch Wasserspiele.

Marc Steinmetz, 1964 geboren, ist Grafikdesigner und arbeitet seit drei Jahren als freier Fotograf in Starnberg. 1998 wurde er für eine Fotoreportage über den Heidelberger Anatomen Gunther von Hagens mit zwei World Press Photo Awards ausgezeichnet. Dies ist seine erste Arbeit für mare
Person Von Andreas Weber und Marc Steinmetz
Vita Andreas Weber, Jahrgang 1967, studierte Meeresbiologie und Philosophie, arbeitet als freier Journalist und schreibt derzeit in Paris seine Dissertation. In mare No.3 besprach er James Hamilton-Patersons Buch Wasserspiele.

Marc Steinmetz, 1964 geboren, ist Grafikdesigner und arbeitet seit drei Jahren als freier Fotograf in Starnberg. 1998 wurde er für eine Fotoreportage über den Heidelberger Anatomen Gunther von Hagens mit zwei World Press Photo Awards ausgezeichnet. Dies ist seine erste Arbeit für mare
Person Von Andreas Weber und Marc Steinmetz