Die Abschlussfahrt

Karl Marx’ Seereise zu einer Kur in Algier ist eine Grenzerfahrung für den empfindsamen, kränkelnden Gesellschaftstheoretiker. Hier findet er zu entscheidenden Änderungen an seiner Weltsicht

Marseille, 18. Februar 1882. Von seinem Hotel aus lässt sich Karl Marx am Nachmittag zum Hafen bringen. Am Kai liegt der französische Postdampfer „Said“ zur Überfahrt nach Algier bereit, wo Marx fast drei Monate in einem kleinen Hotel mit Blick aufs Mittelmeer verbringen wird. Es ist seine erste und einzige Reise, die ihn außerhalb von Europa führt. 

Die Schiffsglocke und der schrille Pfiff des Kapitäns rufen die Passagiere auf die schwankenden Planken. Der Kessel wird  geheizt, Dampf steigt auf. Post und Frachtgut für die französische Kolonie sind ge­laden. Auch Marx’ Gepäck ist bereits in die Kabine gebracht worden. „Also alles so bequem als möglich“, berichtet Marx später nach London. „Von Pass und dergleichen ist gar keine Rede. Auf dem Billett des Passagiers nichts inskribiert außer Vor- und Familiennamen.“ 

Um polizeilichen Verfolgungen zu entgehen, hatte er als 27-Jähriger dem Königreich Preußen seine Staatsangehörigkeit vor die Füße geworfen. Später schlugen alle Versuche fehl, die Wiedereinbürgerung zu erreichen. 1874 verweigerte ihm auch Großbritannien, sein langjähriges Exilland, die Staatsbürgerschaft. Seit er 1871 öffentlichkeitswirksam Partei für die Pariser Kommune ergriffen hatte – den Aufstand französischer Arbeiter im von deutschen Truppen belagerten Paris –, war er als einer der Architekten des europäischen Sozialismus in ganz Europa berüchtigt. Da die englische Regierung ein fast uneingeschränktes Asylrecht gewährte, war er als Staatenloser jedoch keinem rechtlichen Albtraum ausgesetzt. Zudem hatten die kontinentaleuropäischen Staaten auf englischen Druck hin ihre Pass- und Reisevorschriften liberalisiert.

Kaum hat die „Said“ den Hafen verlassen, wird sie von Wind und Wellen erfasst. Es poltert an Deck, im Laderaum rumort  es. Eine Seemeile von Marseille entfernt ist das französische Staatsgefängnis auf der Île d’If zu sehen, die Alexan­dre Dumas mit seinem Roman „Der Graf von Monte Christo“ bekannt gemacht hat. 1848, 1851 und 1870 hatten die unterschiedlichen französischen Regierungen Hunderte von politischen Gefangenen dort festgesetzt. In der Nacht leuchtet das Meer und funkeln die Sterne. Morgens kommen die Balearen in Sicht. An Menorca fährt das Schiff so nah vorbei, dass die Häuser zu erkennen sind. Als die „Said“ nachmittags die letzte der Inseln hinter sich lässt, geht die See höher. Nur noch Wasser und Himmel sind zu sehen. 

Dem von Krankheit gezeichneten Marx setzen Kälte und Maschinenlärm sehr zu – trotz „allen Komforts“ des „ex­zel­lenten Dampfschiffs“ und trotz der Freundlichkeit des Kapitäns („sehr netter Kerl“), der von Frau und Kind begleitet wird. Im Herbst 1881 war Marx so ernsthaft erkrankt, dass er, nachdem seine Frau Jenny von Westphalen am 2. Dezember gestorben war, nicht am Begräbnis teilnehmen konnte. Obwohl er den Jahreswechsel in Ventnor auf der Isle of Wight in Begleitung seiner jüngsten Tochter Eleanor verbrachte, hatten sich sein Husten und seine Schmerzen nicht wesentlich gebessert. Nun sollte er auf Drängen seines Londoner Arzts und seines Freunds Friedrich Engels seine chronische Bronchitis, bei der es sich jedoch wahrscheinlich um eine ausgedehnte Lungentuberkulose handelte, im trocken-warmen Klima Nordafrikas auskurieren. 

Wie die erste, so verbringt Marx auch die zweite Nacht an Bord „wegen diabolischen Lärms von Maschinerie, Wind“ schlaflos in seiner Kabine. Er fühlt sich „tief ins Innere verfroren“. Mit „schlaflos, appetitlos, starker Husten, etwas ratlos“, begleitet von „Anwandlungen einer profunda melancolia“, beschreibt er Engels seinen Zustand. Überhaupt ist es eine nachdenkliche Reise, beherrscht „von Erinnerungen an meine Frau“ und den „besten Jahren meines Lebens“, wie er nach London schreibt. Aber auch über sein politisches und wissenschaftliches Wirken denkt er nach, vermutlich selbst in Träumen und Albträumen. 

Nach zwei Nächten und einem Tag erreicht die „Said“ um halb vier Uhr morgens Algier. Vor Marx liegt die „amphithea­tralisch aufsteigende“ Häuserpyramide der Stadt, überragt von den Wällen der auf eine Burg aus dem 16. Jahrhundert zurückgehenden Kasbah, flankiert von grünen Hügeln. Mit dem anbrechenden Tag kann Marx die ganze Küstenlandschaft mit ihrem Grün, Weiß und Blau sehen, ein Anblick, der alle europäischen Besucher in ihren Bann zieht. 

Am Hafen erwartet ihn der französische Zivilrichter Albert Fermé, ein Studienfreund seines Schwiegersohns Charles Longuet. Zuerst logiert Marx im „Grand Hôtel d’Orient“, keine hundert Schritte vom Hafen, dann zieht er mit der Hilfe Fermés in die kleinere „Pension Victoria“ um, eine „sehr komfortable Villa, auf den Hügeln außerhalb der Befestigungswerke“. Von seinem Zimmer aus kann er den Hafen und die halbmondförmige Bucht sehen, hinter dem Cap Matifou sogar die mit Schnee bedeckten Spitzen des Atlas­gebirges. „Am Morgen um acht Uhr nichts Zauberhafteres als Panorama, Luft, Vege­tation, europäisch-afrikanisch wunderbare Mélange“, meldet er nach London. 


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mare No. 150

mare No. 150Februar / März 2022

Von Jürgen Herres und Claudia Lieb

Als Jürgen Herres, Jahrgang 1955, Historiker in Berlin und Trier, Schülern über Marx’ Algierreise berichtete, wunderten sich diese darüber, dass der staaten- und passlose Marx damals quer durch Europa nach Nord­afrika reisen konnte. Tatsächlich war das freie Reisen im Europa vor dem Ersten Weltkrieg üblich.

Claudia Lieb, geboren 1976, Illustratorin in München, findet Marx’ Ideen aktueller denn je. „Die Dimensionen ­so­zialer Ungerechtigkeit werden immer deutlicher.“

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Als Jürgen Herres, Jahrgang 1955, Historiker in Berlin und Trier, Schülern über Marx’ Algierreise berichtete, wunderten sich diese darüber, dass der staaten- und passlose Marx damals quer durch Europa nach Nord­afrika reisen konnte. Tatsächlich war das freie Reisen im Europa vor dem Ersten Weltkrieg üblich.

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Als Jürgen Herres, Jahrgang 1955, Historiker in Berlin und Trier, Schülern über Marx’ Algierreise berichtete, wunderten sich diese darüber, dass der staaten- und passlose Marx damals quer durch Europa nach Nord­afrika reisen konnte. Tatsächlich war das freie Reisen im Europa vor dem Ersten Weltkrieg üblich.

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