Dichters Muse, Seemanns Braut

Paradiesisches Tal – Valparaíso: Der Magnum-Fotograf Sergio Larraín porträtiert die legendäre Hafenstadt am Pazifik

„Nacht von Valparaíso! Ein Punkt des Planeten leuchtete auf, erlosch im leeren Universum. Es zitterten die Leuchtkäfer, und zwischen den Bergen begann ein goldenes Hufeisen zu brennen.

Bald sandte die ungeheure entvölkerte Nacht gewaltige Gestalten aus, die das Licht vervielfältigten. Aldebarán bebte mit seinem fernen Pulsschlag, Kassiopeia hängte ihr Priestergewand an die Tore des Himmels, während über dem nächtlichen Sperma der Milchstraße still der Wagen vom Kreuz des Südens kreiste.

Dann entfiel Sagittarius, schwingend und behaart, aus seinen verlorenen Klauen ein Diamant, aus seinem fernen Fell ein Floh.

Valparaíso war geboren, feurig und lärmend, schaumig und hurentoll.“


„Valparaíso schüttelt sich manchmal wie ein verwundeter Wal. Schwankt in der Luft, ringt mit dem Tod, stirbt und ersteht von neuem.

Hier trägt jeder Bürger eine Erinnerung an Erdbeben mit sich. Es ist eine lebendige Blüte des Entsetzens, die am Herzen der Stadt haftet. Jeder Bürger ist vor seiner Geburt ein Held. Denn in der Erinnerung des Hafens gibt es diese Mißlichkeit, dieses Erschaudern der Erde, die zittert, und das heisere Geräusch, das aus den Tiefen steigt, als setze eine unterseeische, unterirdische Stadt ihre beerdigten Glockentürme mit doppelter Kraft in Bewegung, um den Menschen zu bedeuten, daß alles zu Ende sei.“


„Die Treppen beginnen unten und oben und winden sich steigend. Sie werden fein wie Haar, gewähren kurze Rast, sind steil. Werden seekrank. Stürzen vornüber. Breiten sich aus. Weichen zurück. Enden nie. Wie viele Treppen? Wie viele Treppenstufen? Wie viele Füße auf Stufen? Wie viele Jahrhunderte von Schritten, treppauf, treppab, mit dem Buch, den Tomaten, dem Fisch, den Flaschen, dem Wein? Wie viele Tausende von Stunden, die die Stufen abgenützt, bis sie Kanäle waren, in denen Regen rinnt, spielt und weint? Treppen!

Keine Stadt hat sie in ihrer Geschichte so verschwendet und aufgeblättert, hat sie in ihrem Angesicht so ausgestreut und vereint wie Valparaíso. Kein Antlitz einer Stadt besitzt diese Furchen, über die Leben kommen und gehen, als stiegen sie immerfort auf zum Himmel, als stiegen sie immerfort hernieder zur Schöpfung.

Treppen, die auf halbem Wege eine Distel mit purpurfarbenen Blüten zur Welt brachten! Treppen, die der aus Asien zurückgekehrte Seemann erklomm, den zu Hause ein neues Lächeln erwartete oder eine schreckliche Abwesenheit! Treppen, die ein Betrunkener wie ein schwarzer Meteor hinabstürzte! Treppen, auf denen die Sonne steigt, um den Hügeln Liebe zu spenden! Wenn wir alle Treppen Valparaísos begangen haben, sind wir um die Welt gereist.“


„Die Nacht seiner Gassen füllte sich mit schwarzen Najaden. In der Dunkelheit belauerten dich Türen, fesselten dich Hände, die Bettlaken des Südens verführten den Seemann. Polyanta, Tritetonga, Carmela, Flor de Dios, Multicula, Berenice, „Baby Sweet“ bevölkerten die Bierkeller, beschützten die Schiffbrüchigen gegen den Wahnsinn, sie ersetzten und erneuerten einander, tanzten ohne Zügellosigkeit, mit der Melancholie meiner regenreichen Rasse.“

mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

Eine Fotogalerie

Die Texte sind der Autobiografie des chilenischen Dichters Pablo Neruda Ich bekenne, ich habe gelebt entnommen. Neruda wurde 1904 in Parral geboren, 1971 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Pablo Neruda starb zwölf Tage nach dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973.

Der Fotograf Sergio Larraín wurde 1931 in Santiago de Chile geboren. Die gezeigten Fotografien stammen aus den Jahren 1957 und 1963. Larraín gehört seit 1961 zu der Agentur Magnum. Nach dem Tod Allendes gab er das Fotografieren auf.

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Vita Die Texte sind der Autobiografie des chilenischen Dichters Pablo Neruda Ich bekenne, ich habe gelebt entnommen. Neruda wurde 1904 in Parral geboren, 1971 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Pablo Neruda starb zwölf Tage nach dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973.

Der Fotograf Sergio Larraín wurde 1931 in Santiago de Chile geboren. Die gezeigten Fotografien stammen aus den Jahren 1957 und 1963. Larraín gehört seit 1961 zu der Agentur Magnum. Nach dem Tod Allendes gab er das Fotografieren auf.
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Vita Die Texte sind der Autobiografie des chilenischen Dichters Pablo Neruda Ich bekenne, ich habe gelebt entnommen. Neruda wurde 1904 in Parral geboren, 1971 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Pablo Neruda starb zwölf Tage nach dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973.

Der Fotograf Sergio Larraín wurde 1931 in Santiago de Chile geboren. Die gezeigten Fotografien stammen aus den Jahren 1957 und 1963. Larraín gehört seit 1961 zu der Agentur Magnum. Nach dem Tod Allendes gab er das Fotografieren auf.
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