Der Wind, die Hand, das Meer

Der baskische Bildhauer Eduardo Chillida schenkt seiner Heimatstadt San Sebastián sein schönstes Monument

Den Ort kannte er auswendig. Zur Grotte am Ende der Donostiabucht bei San Sebastián hätte er blindlings laufen können. Unzählige Male war er dort. Vom Fels geschützt, den Kopf im Wind, mehr Kormoran als Mensch, stand er an der Schwelle zum Meer, staunte und zählte die senkrechten Wellen. Immer gleich und stets anders zeichneten sie etwas. Die Gischt zischte, es roch nach Salz und Fisch. Mitten im Getöse passierte dasselbe Wunder ohne Unterlass: Ehe die Wassermasse auf die Klippe schlug, stand sie einen Moment still.

Die Kraft der Erinnerung hat die Bedeutung des Spektakels noch verstärkt, jede dramatische Geste gesteigert und den einstigen Zuschauer allmählich zum möglichen Helden gemacht. Das Schlüsselerlebnis war bereits gegeben, obwohl Eduardo Chillida noch nichts von Kunst und Bildhauerei wusste.

Dass ein Baske schnell, erfinderisch und klug sein muss, hat der Sohn einer Sopranistin und eines Berufsoffiziers sehr früh begriffen. Deshalb war ihm klar, dass er ein gutes Versteck brauchte, wenn er die Schule schwänzte. Die unwegsame Küste eignete sich da noch besser als die labyrinthischen Flure des Hotels „Biarritz“, das die Großmutter leitete.

Am Meer blieb der pragmatische Romantiker anonym und allein, auf dem Fußballplatz hingegen, wo er jede freie Stunde verbrachte, erschien er immer im Zentrum des Geschehens und stieg mit der Real Sociedad de San Sebastián bis in die Erstliga auf. Die Sportkarriere endete für den bejubelten Torhüter mit einem zerschmetterten Knie.

Der junge Mann änderte die Taktik, folgte dem Wunsch des Vaters und begann in Madrid Architektur zu studieren. 1948 wechselte er zur Bildhauerei, ließ sich in Paris nieder und hatte Glück. Früher als seine Generationsgenossen Anthony Caro, Bernhard Luginbühl, Sol Le Witt oder Jean Tinguely international wahrgenommen, wurde er von Erfolg zu Erfolg getragen.

Der Große Preis der Biennale in Venedig 1958, eine Sensation für den erst 34-Jährigen, war bloß der Anfang eines Dauerregens von Auszeichnungen, Medaillen und Ehrungen. Bis heute hält sein Ruhm, trotz Krankheit und der letzten, nicht gerade geglückten Großrealisation für das Bundeskanzleramt in Berlin. Im Vergleich zu den euphorischen fünfziger Jahren hat sich aber die Bewertung seines Schaffens verschoben. Eduardo Chillida, einst als Draufgänger der abstrakten Metallplastik gefeiert, erscheint heute als ein stark von lokalen Urformen geprägter Archaiker, nicht als Avantgardist.

Mit Pili Belzunce frisch verheiratet, kehrt Eduardo Chillida 1951 nach San Sebastián zurück. Die traditionsbewusste Frau, aus einer uralten baskischen Familie stammend, wird ihrem Mann Geborgenheit und acht Kinder schenken. Wie ein Schutzengel folgt sie ihm überallhin. Ein Schritt vor oder hinter ihm, begleitet Pili Eduardo zum Monte Igueldo, zur Mündung des Río Urumea, zum Hafen und zu den Meerbusen. Wie immer ist es windig am Atlantik. Die Böen kämmen die Brandung – oder ist es umgekehrt? Die zwei Silhouetten flattern. Langsam, überlangsam fährt Pili mit allen zehn Fingern durch ihre Mähne. Der natürlichste und schönste Kamm ist die Hand, funkt es dem Mann. Der Wind, die Hand und das Meer – eine fast zu romantische Offenbarung. Chillida setzt sich in den Kopf, seiner Geburtsstadt ein Denkmal zu widmen.

Die Heimreise des Bildhauers führt zu einem Gesinnungswandel. Der Junge, als Kosmopolit getarnt und nun mit der französischen Kultur vertraut, wird wieder baskisch und mischt sich unter das Volk der Fischer, Seeleute und Schmiede. Er begreift mit den Unterschieden von mediterranem und atlantischem Licht auch die Nuancen der beiden Kulturen, verzichtet auf Versuche in Stein und macht in einer Metallwerkstatt seine späte Lehre. Der weltweite Boom der Metallplastik ist durch die verfeinerte Technologie des Schweißens begünstigt.

Chillida verwendet nie Schrott, hält nichts von Assemblagen und agiert als Schmied – ohne Neigung zur Materialprotzerei. Das Ziehen, Biegen und Tordieren des Rohlings bietet sich als Parallele zum Zeichnen an und dient als logische Basis für eine räumliche Konstruktion. Der Plastiker baut. Mit internationalen Schwergewichten will er nicht wetteifern, leidet unter allzu pathetischen Anspielungen und sperrt sich auf seine Art gegen die Zeitmode, die abstrakte Kunstwerke mythisiert: Ihre Schmieden suggerieren sofort die Hephaistos-Werkstatt, und wo das Feuer brennt, ist auch ein Prometheus nicht weit. Je laizistischer die Gesellschaft, desto wilder die Ersatzreligionen.


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mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Von Ludmila Vachtova und Stephan Erfurt

Dr. Ludmila Vachtova, Jahrgang 1933, studierte in Prag Kunstgeschichte. 1968 erhielt sie den Preis der tschechischen Kunstkritik. Seit 1972 lebt sie als freie Autorin in Zürich. Sie schreibt über Kunst für die Neue Zürcher Zeitung, den Tages Anzeiger, die Weltwoche und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Stephan Erfurt, geboren 1958, lebt als freier Fotograf in Berlin und wird von der Fotoagentur Focus vertreten. Für mare No.11 fotografierte er die Hafenstadt Odessa.

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Vita Dr. Ludmila Vachtova, Jahrgang 1933, studierte in Prag Kunstgeschichte. 1968 erhielt sie den Preis der tschechischen Kunstkritik. Seit 1972 lebt sie als freie Autorin in Zürich. Sie schreibt über Kunst für die Neue Zürcher Zeitung, den Tages Anzeiger, die Weltwoche und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Stephan Erfurt, geboren 1958, lebt als freier Fotograf in Berlin und wird von der Fotoagentur Focus vertreten. Für mare No.11 fotografierte er die Hafenstadt Odessa.
Person Von Ludmila Vachtova und Stephan Erfurt
Vita Dr. Ludmila Vachtova, Jahrgang 1933, studierte in Prag Kunstgeschichte. 1968 erhielt sie den Preis der tschechischen Kunstkritik. Seit 1972 lebt sie als freie Autorin in Zürich. Sie schreibt über Kunst für die Neue Zürcher Zeitung, den Tages Anzeiger, die Weltwoche und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Stephan Erfurt, geboren 1958, lebt als freier Fotograf in Berlin und wird von der Fotoagentur Focus vertreten. Für mare No.11 fotografierte er die Hafenstadt Odessa.
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