Der Vielbegabte

Viele kennen Adelbert von Chamisso als Dichter der Romantik, als Autor des „Schlemihl“. Weit weniger wissen, dass er bei einer Weltumsegelung bedeutende Erkenntnisse für die Naturkunde gewann

Durch eine Kette glücklicher Umstände und dank der Empfehlung einflussreicher Freunde gelingt es Adelbert von Chamisso, als Naturforscher, oder „Titulargelehrter“, wie es offiziell heißt, in Kopenhagen an Bord der von Sankt Petersburg kommenden russischen Brigg „Rurik“ zu gehen. Auf ihr umsegelt er, unter dem Kommando des jungen baltischen Kapitäns Otto von Kotzebue, von August 1815 bis September 1818 die Welt. Zuvor hat Chamisso, wie er später in seiner Reiseerinnerung schreibt, „in meinem Leben noch kein Schiff bestiegen“; dennoch wird die russische Expedition „ein Hauptstück meiner Lebensgeschichte“. Die „Rurik“ wird gleichsam zu Chamissos Siebenmeilenstiefeln, die Reise zur langersehnten Wunscherfüllung. „Ich schaute, freudiger Tatkraft mir bewusst, in die Welt, die offen vor mir lag, hinein, begierig in den Kampf mit der geliebten Natur zu treten, ihr ihre Geheimnisse abzuringen.“


Chamisso, der in jungen Jahren mit seiner adeligen Familie in der Französischen Revolution aus seiner Heimat in der Champagne vertrieben worden war, hatte in Berlin als Page von Königin Friederike Luise gedient, später als Leutnant der preußischen Armee. Dann indes irrt der heimatlose Grafensohn jahrelang zwischen Frankreich und Preußen herum, das zu allem Überfluss gegen Napoleon in den Krieg zieht. Nach ziellosem Umherwandern, unter anderem im Gefolge der ins Genfer Exil verbannten Schriftstellerin Germaine de Staël, schreibt Chamisso sich im Herbst 1812 an der Berliner Universität ein, um Medizin und Naturforschung zu studieren. Die Universitätszeit beendet nicht nur das Migrantenleben des sich bis dahin als Poet versuchenden Chamisso; sie wird zum biografischen Wendepunkt und Beginn seiner bemerkenswerten Karriere als Naturforscher.

Bis dahin ist Chamisso vor allem Autor der fantastischen Novelle „Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte“, sein bis heute erfolgreichstes Werk. Es ist die eindrückliche Erzählung um den faustischen Handel eines Mannes, der dem Teufel seinen Schatten gegen ein unerschöpfliches Geldsäckel verkauft und dafür als geächteter Außenseiter büßen muss. Trost findet er schließlich darin, als gelehriger Schüler Linnés auf der Suche nach Pflanzen die Erde zu umrunden. „Ich habe, soweit meine Stiefel gereicht, die Erde […] gründlicher kennen gelernt, als vor mir irgendein Mensch.“ 

Die Novelle entstand im Sommer 1813 in Kunersdorf im Oderbruch, damals knapp eine Tagesreise östlich von Berlin. Auf Anraten wohlmeinender Freunde war der ge­borene Franzose und Wahlpreuße Chamisso als Hauslehrer auf das Landgut des Grafen von Itzenplitz gekommen, um während der Befreiungskriege gegen Napoleon nicht zwischen die Fronten zu geraten. In seiner Erzählung wird er mit seinem Schlemihl eins und begibt sich zum ersten Mal auf Weltreise. „Durch frühe Schuld von der mensch­lichen Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen Garten gegeben, das Studium zur Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft.“ Nicht nur gleicht die Gestalt des Schlemihl bis aufs Haar seinem Schöpfer; was Chamisso ihm in die Feder diktiert, trifft idealtypisch auf sein großes Vorbild zu: Alexander von Humboldt. An ihm will er sein Leben ausrichten.

Chamisso kennt nicht nur die Schriften Humboldts. Anfang 1810 ist er ihm während eines Aufenthalts in Paris im dortigen Kreis deutscher Literaten und Gelehrter vorgestellt worden. Humboldt habe in Paris mit seinen Berichten von „der Tropennatur, den Llanos, den Anden, der fremden Physiognomie einer uns unbekannten Schöpfung“ auf ihn nachhaltigen Eindruck gemacht, so Chamisso in einem Brief. So wie einst der junge Humboldt die Reiseschilderung des Georg Forster verschlang, nach eigenem Bekunden „der hellste Stern seiner Jugend“, so wird dank Humboldt auch Adelbert von Chamissos Blick schon Jahre vor seiner eigenen Weltumsegelung auf fremde Kontinente gelenkt und sein Interesse an fremden Ländern, ihren Kulturen und Naturerscheinungen geweckt. Bis ins Detail gleicht die Reiseroute seines Peter Schlemihl jenen Reiseplänen, von denen Humboldt Chamisso in Paris berichtet hat. Und in einem Brief vom Sommer 1812 schreibt er, wie er bei der Lektüre von Reiseberichten Lust daran empfinde, „Zeit und Raum in Gedanken zu durchschwärmen“. Im Jahr darauf bringt er die gedankliche Reiselust in Schlemihls Geschichte zu Papier. Mit dessen Figur skizziert ­Chamisso sein Wunschbild jenes Naturforschers, der er selbst gern wäre – ein Botaniker, der von seinen Wanderungen über weite Kontinente und Meere überreiche Sammelausbeute nie gesehener Pflanzenspezies einbringt, wie es ausklingend im „Schlemihl“ heißt.


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mare No. 164

mare No. 164Juni / Juli 2024

Von Matthias Glaubrecht

Autor und Zoologe Matthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Gründungsdirektor des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg. Am Berliner Naturkundemuseum hat er sich auf Spurensuche nach den naturkundlichen Objekten Chamissos begeben und dessen Reisebericht neu herausgegeben.

Alle Illus­trationen stammen von Chamissos Reisebegleiter Ludwig Choris.

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Autor und Zoologe Matthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Gründungsdirektor des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg. Am Berliner Naturkundemuseum hat er sich auf Spurensuche nach den naturkundlichen Objekten Chamissos begeben und dessen Reisebericht neu herausgegeben.

Alle Illus­trationen stammen von Chamissos Reisebegleiter Ludwig Choris.

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