Der Tanz, den das Leben schrieb

Der Roman des Schriftstellers Niko Kazantzakis über den makedonischen Bergmann Sorbas, der einem jungen Intellektuellen die praktische Philosophie des guten Lebens lehrt, und mehr noch die Verfilmung mit Anthony Quinn haben unser Bild der Griechen geprägt

Der hufeisenförmige Sandstrand von Kalogria ist auch heute noch ein leicht traumhaft wirkendes Areal. Geschützt von einer vulkansteinernen Wand und einer Allee mächtiger Eukalypten, liegt er auf dem mittleren Finger des Peloponnes, eine Autostunde entfernt von der messenischen Hauptstadt Kalamata, ganz nahe am südlichen Ende des europäischen Festlands. Gegen Ende des Jahres 1915 hatte der damals 32-jährige kretische Dichter Nikos Kazantzakis ein paar Gehminuten entfernt, inmitten grimmiger Macchia, mit Studienkollegen eine Braunkohlemine gepachtet. Der überzeugte Pazifist ahnte, dass Griechenland sich nicht lange aus dem Chaos des Ersten Weltkriegs heraushalten werden könne. Die Balkanfront bot die Möglichkeit, an der Seite der Alliierten Rache an den verhassten Osmanen zu nehmen. Es war alles nur eine Frage der Zeit.

Der Abbau der Lignitkohle für die Armee war für den feinnervigen Künstler nicht die konsequenteste, aber die eleganteste Methode, sich vom Wehrdienst fernzuhalten. Und er erinnerte sich an einen Mann aus dem makedonischen Norden, den er vor Kurzem im Kloster Athos kennengelernt hatte. Einen formidablen Landstreicher, um die 50 Jahre alt, strotzend vor Vitalität, mit einer großen Klappe, einem noch größeren Herzen und einem Gesicht, das einem verschlissenen Segel glich. „Es war voller Runzeln, zerhackt, wurmstichig, wie zerfressen von der Sonne, Wind und Wetter. Was mir besonderen Eindruck machte, waren die Augen, kugelrunde kleine Augen wie die eines Adlers, spöttisch, traurig, unruhig, ganz Feuer.“

Jener Georgios Sorbas folgte ohne Zögern dem Ruf des neuen Freundes, den er als Tintenkleckser und Papiermaus bespöttelt hatte. Im Februar 1916 traf der Witwer mit sieben seiner zehn Kinder im gottverlassenen Fischerdorf Prastova ein, um erste Vorkehrungen für das Projekt zu treffen: Sprengungen, Probebohrungen, außerdem die Suche nach geeigneten Frauen und Männern für eine 150-Personen-Belegschaft. Am 2. April meldete die Lokalpresse mit euphorischen Worten die Gründung der Minengesellschaft. Das damals dazu abgedruckte Foto zeigt eine bunte Truppe in teilweise abenteuerlichen Fantasieuniformen, die vor dem Stolleneingang posiert: schnauzbärtige Türken mit Wasserpfeife und Fes, Griechen in maniotischen Trachten, mit löchrigen Borsalinohüten und Lackschuhen, undurchsichtige Söldner, vermummte Frauen, lachende Kinder in kurzen Hosen.

Arbeit und Brot in diese tief royalistisch und orthodox geprägte mittelalterliche Einöde zu bringen war die eine Sache. Die andere war dieser Fremde mit seiner Kinderhorde, der aus dem Nichts aufgetaucht war, ein Bohemien, der kein Blatt vor den Mund nahm und eimerweise Hohn ausschüttete über Vaterlandsliebe, Gottesanbetung und Traditionspflege. Rasch hebelte er die gewohnte Ordnung aus, und statt sich nett mit Popen, Dorfpolizisten und Ältestenrat zu arrangieren, nahm er die warme, weibliche Seite des örtlichen Lebens in Augenschein oder scherzte mit den Dorfdeppen.

Im Herbst des Jahres 1916 schließlich kam Nikos Kazantzakis mit der Fähre aus Piräus an. Die unerbittliche Sommerhitze war überstanden, im Athener Königspalast standen die Zeichen endgültig auf Krieg, und seine Mine war damit in die nationale Energiebeschaffung eingebunden. Sorbas, der eine Baracke inmitten eines paradiesischen Gartens mit Granatapfel-, Oliven-, Zitronenbäumen und Zypressen am Ufersaum bewohnte, hatte seinem Chef im gegenüberliegenden Teil der Bucht ein geräumiges Haus aus Holz und Bambus erbaut. Brieflich hatte Kazantzakis erbeten, die Fenster im gotischen Schnitt zu gestalten, nach oben spitz verlaufend, zu Gott hindeutend.

So gewaltig der Blick war, der sich über die Messinische Bucht eröffnete, so spartanisch war die Einrichtung: eine Strohmatratze, ein Tisch, ein Stuhl, ein Porträt von Leo Tolstoi über dem Kamin und ein Regal für Kazantzakis’ Bücher: die Bibel, Henri Bergson, Nietzsche, Dostojewski und jede Menge buddhistischer Literatur – sie war in jenen Tagen das alles beherrschende Thema des Schriftstellers. Jeden Morgen begab sich Kazantzakis in eine Höhle unterhalb des Hauses, die dank hängenden Unkrauts und schräg gewachsener Bäume fast uneinsehbar war und vom Meer sanft bespült wurde. Dort verbrachte er viele Stunden meditierend, lesend, schreibend. Zugleich konnte er das Kommen und Gehen der Boote verfolgen, die die Tagesausbeute nach Athen transportierten, manchmal trug ihm der Nordwind die Stimmen seiner Arbeiter und das Dröhnen der schweren Geräte zu.


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mare No. 111

No. 111August / September 2015

Von Wolf Reiser

Für Autor Wolf Reiser, geboren 1955, war es 1980 eine Bauchentscheidung, am Strand von Kalogria eine Hütte zu mieten. Erst nach und nach erfuhr er, dass er an einem Schauplatz der Weltliteratur gelandet war.

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