Der Spion, der aus der Sonne kam

Man nannte sie „Romeos“: die Stasi-Agenten, die an Bulgariens Stränden westdeutsche Urlauberinnen, bevorzugt Sekretärinnen in Ministerien, verführten, um sie zu Spioninnen zu machen. ­Einer von ihnen, IM „Wolf“, erzählt in mare, wie das gelang

Was hätte Ethan gemacht? IM „Wolf“ ist bei Stefan Heym ­erschienen, mit dem „König-David-Bericht“ unterm Arm, abgerissene Zettel darin, die aus dem Buch herausstehen, um jene Stellen in Heyms Roman wiederzufinden, die er mit Bleistift unterstrichen hat.

Der Lichtspalt der sich öffnenden Tür, der Geruch nach Leder und Papier, der wuchtige Schreibtisch, an dem Heym sitzt. Die große Bibliothek in dessen Rücken. Platz nehmen, Buch heraus­holen, mit der ersten Stelle anfangen.

Was verstehen Sie daran nicht? Heyms Frage, die wie Zigarettenrauch im Raum hängt. Sein erwartungsvolles Uhugesicht. Das Ticken einer Wanduhr. Die aufragende Bibliothek, die mit jeder Minute größer zu werden scheint. So hat IM „Wolf“ es in Erinnerung. 

Immer lässt ihn Heym mit einer Frage allein, immer muss Wolf die Buchstelle selbst dechiffrieren. Oder das Problem selbst lösen, mit dem er zu Heym gekommen ist. Die Stasi hat ihn angeworben, als „Romeo-Agenten“ am Goldstrand von Bulgarien, und zwischen beiden hat sich zur pädagogischen Bewältigung des Teufelspakts ein Frage-Antwort-Spiel ent­wickelt. Wenn Wolf fragt: Was soll ich machen?, antwortet Heym immer: Was hätte Ethan gemacht? Die Hauptfigur seines neuesten Romans, „Der König-David-Bericht“, 1972 zuerst in der Bundesrepublik erschienen, in der DDR auf dem Index.

Wolf weiß heute nicht mehr genau, wer als Erster die Parallele gezogen hat, er oder Heym. Aber bei allen Treffen, die er mit Heym hatte, ging es um die Frage: Was hätte Ethan gemacht?

Es fängt damit an, dass Wolf 1974 zum Julklapp ein Buch geschenkt bekommt, „Der König-David-Bericht“. „Damit dir ein Licht aufgeht“ steht auf dem Begleitzettel. Zu diesem Zeitpunkt ist Wolf Journalistikstudent in Leipzig. Am Wochenende und in den Ferien ist er häufiger in Berlin-Grünau, bei einer Freundin in der Dahmestraße, ein paar Blocks von Heym entfernt. Wolf kennt die Gegend, er hat im hiesigen Marinesportclub der „sozialistischen Wehrorganisation“ GST Medaillen gewonnen. Eine Zeit lang lebt er als Ausbildungskommandant auf einem Schulboot auf der Dahme, einem Zufluss der Spree, horcht auf die Geräusche, den Wind und die Wellen, und wenn er ans Ufer blickt, zwischen das Spalier der Linden, sieht er manchmal Stefan Heym hindurchspazieren, mit seinem Pudel. Oder er erspäht ihn im nahen Plänterwald, wo „keine Richtmikrofone“ der „Geheimpolizei“ hinreichen, wie Heym einmal schreibt.

Heym wohnt in der Rabindranath-Tagore-Straße 9, in einer von der Regierung errichteten „Siedlung für die schaffende Intelligenz“. Hier liegen die Häuser mit üppigen Vorgärten von der Straße zurückgesetzt. Auf der Rückseite des Blocks verläuft die Regattastraße und der Lange See. Die Mieten sind günstig, der Komfort für DDR-Verhältnisse hoch. Die Genossen wollen es den Künstlern hier so angenehm wie möglich machen, damit sie nicht auf den Gedanken kommen auszuwandern. Einer der ersten Bewohner der Siedlung ist Heym. In den 1950er-Jahren emigriert er aus den USA hierher. In Ostberlin wurden bereits vor ihm „Westflüchtlinge“ wie Brecht und Seghers freudig begrüßt. Und nun Heym. Eine weitere literarische Größe, die sich zum Sozialismus bekennt – ein Erfolg für die DDR, doch Heym steht dem Regime zeitlebens kritisch gegenüber.

Heym, bekannteste Unperson der DDR, meistgelesener Ostschriftsteller in der Bundesrepublik, selbst erklärter Marxist und Sozialist und Dissident zugleich. Wolf empfindet sich ebenfalls als „geistigen Grenzgänger“ und sieht in Heym ein Idol. Und nun das Buchgeschenk zum Julklapp. So vieles will er Heym sagen und fragen, doch als er unverhofft die Gelegenheit dazu bekommt, bei einer Zufallsbegegnung im Lebensmittelladen, bringt er nur den dürftigen Satz hervor: Ich habe das Buch gelesen und ein paar Fragen. Können wir uns treffen? – Treffen? Heym ist skeptisch. Na meinetwegen, habe er gebrummelt, kommen Sie vorbei.

Wolf geht es nicht nur um das Buch. Er ist dabei, einen „Pakt mit dem Teufel“ einzugehen, so nennt er es. Ein paar Monate zuvor, noch vor dem Julklapp­geschenk, hat er einen Brief in seinem Fach in Leipzig gefunden: „Aussprache zwecks Studienfragen.“
Wollen Sie Korrespondent werden? Wollen Sie reisen?
„Was sollte ich darauf antworten?“, sagt Wolf heute.
Wollen Sie dem Frieden dienen?
„Klar, wer nicht. Aber wie?“
Das sollte er bei den nächsten Treffen erfahren.
Haben Sie Probleme, sich einer Frau sexuell zu nähern?
Nein, ick wüsste keene Probleme. Mit zwölf das erste Mal Geschlechtsverkehr, mit einer Kellnerin in der Sächsischen Schweiz, es gab nie Probleme.

Noch heute erinnert sich Wolf an die Dialoge mit den Stasi-Offizieren, Wort für Wort, so, wie sich Heym Jahrzehnte ­später an seine Gespräche mit Walter Ulbricht erinnern wird: „Es gibt im Leben Momente, da das Schicksal einem direkt gegenübertritt; und dann läuft manchmal im Schädel eine Art Tonband mit, dessen Aufzeichnung abrufbar bleibt.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 163. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 163

mare No. 163April / Mai 2024

Von Dimitri Ladischensky und Anthony Gerace

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, traf Wolf mehrfach in Berlin und lernte dabei die Wasserwelt Grünaus kennen. „In Grünau liegt Berlin am Meer“, meint er.

Anthony Gerace, geboren 1981, lebt als Künstler, Fotograf und Illustrator in London. Er arbeitet unter anderen für renommierte internationale Medien und an freien Kunstprojekten.

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Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, traf Wolf mehrfach in Berlin und lernte dabei die Wasserwelt Grünaus kennen. „In Grünau liegt Berlin am Meer“, meint er.

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