Der Sound, der übers Meer kam

Schallplatten als Souvenirs Liverpooler Seeleute, die auf Schiffen der Cunard Line über den Atlantik fuhren, veränderten die Musik ihrer Stadt. Sie erst ermöglichten den Mersey Beat

Wer in Liverpool an den Landungsbrücken steht, ahnt das Meer im blauen Dunst der Mersey-Mündung. Am Ufer des Flusses drei mächtige weiße Gebäude. Stolz blicken sie auf die Wasserfläche. „The Three Graces“ nennen sie die Einheimischen. In der Mitte das Cunard Building, hier residierte bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine der großen englischen Reedereien, die Cunard Line. Vor den „Three Graces“ schiebt sich ein Touristenbus durchs Gesichtsfeld, seine Farbe wirkt in dieser Stadt innerhalb einer Sekunde auf die Synapsen: Yellow-Submarine-Gelb. Den Beatles kann man in Liverpool nicht entkommen. In den Souvenirläden stapeln sich Beatles-Socken, Beatles-Mützen, BeatlesStifte, Beatles-Tabletts, Beatles-T-Shirts, Beatles in Öl und als Statuen. Ihre Köpfe fahren auf Bussen durch die Stadt, und in der North John Street, gleich um die Ecke des „Cavern Club“, hat vor Kurzem das „Hard Days Night Hotel“ eröffnet.

Richard Barton ist immer wieder erstaunt von der Fab-Four-Fixierung, die die Besucher hierher treibt. Für ihn, den Liverpooler, waren die Beatles damals nur eine Band unter den vielen, die den Klang der Stadt prägten. Und ohne George Martin, den Produzenten dieses Markensounds, da ist er sich sicher, wären sie es auch geblieben. Barton und sein Freund Billy Harrison sitzen in den tiefen Sesseln der Bar des „Holiday Inn“, gegenüber der Lime Street Station, und plaudern über ihre Jugend: zwei ältere englische Herren in tadellosen Anzügen, das Einstecktuch perfekt auf die Krawatte abgestimmt. Richard und Billy sind „Cunard Yanks“, ehemalige Seeleute, die auf den Schiffen der Cunard Line über den Atlantik fuhren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die englischen Crews Souvenirs nach Hause, die für die Liverpooler im vom Industrierauch grau gefärbten Norden Englands so exotisch wie unwiderstehlich waren: Parfüm, Nylonstrümpfe, Haushaltsgeräte und Schallplatten. Letztere wogen schwer. Sie veränderten sie die Musikkultur ihrer Stadt – und ihre Stadt veränderte den Sound der Popmusik.

Billy Harrison erinnert sich. Er war 15, saß auf einer Mauer und hörte Musik aus einem Fenster wehen. Am nächsten Tag lockte der Klang ihn zurück. „Ein Kerl kommt raus, angezogen wie ein Filmstar. Mitternachtsblauer Anzug, ochsenblutrote Schuhe und weiße Socken. Er sagte: ,Ich habe dich schon gestern bemerkt.‘ Ich sagte: ,Ich höre mir die Musik an. So was habe ich noch nie gehört.‘ Er sagte: ,Das ist Hank Williams. Jambalaya.“ Der Kerl war Seemann und brachte Schallplatten aus Übersee in die Heimat. Am nächsten Tag nahm er Billy mit in die Stadt, zeigte ihm das Seemannsheim und die Coffee Bars. Die Musik säte in Billy die Idee eines anderen Lebens.

Die Jugenderinnerungen von Richard und Billy führen in eine lange vergangene, fremde Welt. Billys Augen leuchten. „My granddaddy was a bare knuckle fighter“, sagt er, ein Faustkämpfer, der sich mit bloßen Händen prügelte; auf sie konnte man Wetten abschließen. Der Großvater, so Billy, hatte keine Knöchel mehr; sie waren nach innen gedrückt. Im Mittelpunkt des Jungslebens aber standen die Mädchen. Richard erzählt: „Ein beneidenswerter Typ kann vor allem eins: Frauen beeindrucken. Und zweitens: andere Typen vermöbeln. Wenn du beides nicht schaffst: Verdiene genug Geld, um dich rauszukaufen.“ Richard fand seinen Weg in die Damenherzen. „Die einfachste Art, Interesse der Mädchen zu wecken, war die Musik.“

Die zwei Radiostationen Liverpools sendeten damals gerade bis 22.30 Uhr. Auch die öffentlichen Veranstaltungsstätten schlossen um diese Zeit. Aber die aufkommende Popmusik hatte in den Radiosendungen ohnehin keinen Platz. Und auch in Pubs wie dem „Broken Nose Jack’s“ spielte man nur Country-Musik – das Liverpool des Nachkriegs hatte jungen Menschen nicht viel mehr zu bieten als graue Ärmlichkeit und ein Stadtbild aus Bombenschäden und Trümmerflächen. Im Hafen gab es immerhin Arbeit. Und die Handelsmarine verhalf Richard und Billy nicht nur zu einem Auskommen, sondern lockte mit der Möglichkeit, die Welt zu erleben – eine Ahnung von Wohlstand, bis hin zum Luxus.

Die jungen Kerle aus England, die auf New York zufuhren, sogen mit nie gekannter Begeisterung die Wellen der Stadt auf der anderen Seite des Ozeans ein. „Du kamst den Fluss hinauf und hast einfach dein Radio angeschaltet.“ Etwa 50 Stationen, schätzt Richard, gab es damals in New York – eine unfassbare Fülle an musikalischen Eindrücken, erreichbar mit einem Dreh am Senderknopf. Schwarz und Weiß waren plötzlich nur wenige Wellenlängen voneinander entfernt, der Radiosound mischte Kulturen und Hautfarben.

Hauptsächlich, erzählt Richard, habe man Montreal und New York angelaufen. Sechs Tage dauerte die Passage nach New York, 1953 kam er das erste Mal in die Stadt, da war er 16. Das Schiff legte immer am Pier 92 auf Höhe der 52. Straße an – ein idealer Platz für die schnelle Erkundung: „Der Broadway war fünf Blocks entfernt, und um die 52. Straße waren alle Jazzclubs.“ Die Musik schien die Stadt zu durchdringen. Richard war begeistert.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 75. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 75

No. 75August / September 2009

Von Christian Jooss

Christian Jooß, Jahrgang 1975, ist Musikjournalist in München. Richtungweisend dafür war einst „I Want To Hold Your Hand“ auf dem Roten Album der Beatles, gehört im Musikunterricht der fünften Klasse.

Mehr Informationen
Vita Christian Jooß, Jahrgang 1975, ist Musikjournalist in München. Richtungweisend dafür war einst „I Want To Hold Your Hand“ auf dem Roten Album der Beatles, gehört im Musikunterricht der fünften Klasse.
Person Von Christian Jooss
Vita Christian Jooß, Jahrgang 1975, ist Musikjournalist in München. Richtungweisend dafür war einst „I Want To Hold Your Hand“ auf dem Roten Album der Beatles, gehört im Musikunterricht der fünften Klasse.
Person Von Christian Jooss