Der Sonnenkompass

Ein Rätsel, wie sich die Wikinger auf dem Atlantik orientierten. Bis ein Archäologe auf Grönland eine Peilscheibe fand

Seit zwei Tagen kochte die See westlich der Färöer, seit zwei Tagen schrien die Benediktinermönche an Bord des Drachenboots Gebete gegen den Sturm, beschworen in Latein und Fränkisch den Heiland, ihr Leben zu schonen, da sie ihm zu Ehren doch auf Grünland ein Kloster zu errichten gedächten, und es könne doch nicht in seinem hochwohllöblichen Interesse liegen, sich selbst einer Bleibe zu berauben.

Der Kapitän, ein eisbärtiger Wikinger aus Kaupang, blickte nur ab und an verächtlich auf die zitternden Gottesmänner; und würdigte sie nur einmal einer kurzen Antwort. Das war, als Bruder Sebaldus sich zwischen Gallegespucke und Gebetslitanei zu einer halbwegs seemännischen Frage aufraffte: „Und wenn der Sturm fort ist, wie finden wir auf den rechten Kurs zurück in dieser Wasserhölle?“ Der Eisbärtige reckte den Unterkiefer vor und brüllte: „Seht euch das hier an: Solange wir den Gnomon haben und das Schiff nicht voll Wasser schlägt, gibt es keinen Grund für euer Gewinsel!“

Die Mönche aber sahen nichts als eine flache Holzscheibe, mitten auf ihrer Oberseite einen Dorn, um den sich eingeritzte Kurvenlinien wellten – ein seltsames Götzenbild, das ganz sicher nichts gegen die tosenden Elemente vermochte, so dachten sie. Und irrten. Zu ihrer aller Glück. Denn sonst wäre das westlichste Benediktinerkloster der Alten Welt wohl nie gebaut worden.

Dass die wikingischen Seefahrer auch über weite Distanzen navigieren konnten, steht außer Frage, nachzulesen in einer der Islandsagas: „Von Hernam in Norwegen (bei Bergen) steuere genau West nach Hvarf in Grönland (nahe dem heutigen Kap Fervel). Du wirst dann Hjatland (die Shetlands) so nahe passieren, dass du sie bei klarem Wetter gerade noch sichten kannst, und Färöer-Inseln so nahe, dass eine Hälfte des Berges unter Wasser liegt, und Island so nahe, dass Vögel und Wale von dort anzutreffen sind.“ Wer eine gerade Linie vom heutigen Bergen zur Südspitze Grönlands zieht, erkennt, dass hier jemand vor rund 700 Jahren die günstigste Verbindung beschrieben hat. (Die Islandsagas entstanden fast alle im 13. Jahrhundert, rund 200 Jahre nach dem Ende der eigentlichen Wikingerzeit, auf die sie sich beziehen.)

Man ist sich heute sicher, dass die Wikinger etwa seit der ersten Jahrtausendwende diese Route gesegelt sind – zu einer Zeit also, als es in Europa noch keinen Magnetkompass gab – und sich keinesfalls per Inselhopping (Norwegen, Shetlands, Färöer, Island) nach Grönland vorgetastet haben. Lange nahm man an, ihnen hätten, wie den frühen Navigatoren der Südsee, allein nächtliche Gestirne und ein heute kaum noch vorstellbarer Schatz an Erfahrungswissen (Winde, Wellenbewegung, Wetterphänomene) den Weg gewiesen. Aber unbefriedigend blieb diese Erklärung allemal, liegt doch gefährlich offenes, häufig von Stürmen aufgewühltes Meer zwischen den Nordschottland vorgelagerten Inseln und dem ehemaligen Grünland.

Im Jahr 1948 stieß der dänische Archäologe und Historiker C.L. Vebæk auf eine Spur, und zwar, ohne danach gesucht zu haben, und anfangs auch, ohne sie zu bemerken. Dem Wissenschaftler und seinem Team ging es eigentlich darum, in der Nähe des Uunartoq-Fjordes an Grönlands Südwestspitze die Ruinen eines Benediktinerklosters zu untersuchen.

Als das Grabungsteam die Grundmauern des Abteibaus freilegte, fiel auf, dass die Mönche ihre Bleibe offenbar auf die Reste eines Hauses gestellt hatten, dessen Errichtung man heute um das Jahr 1000 datiert. Vebæk beschloss, tiefer zu graben, und fand das Segment einer Holzscheibe, die ein wenig wie ein grob skizziertes Kreissägeblatt aussieht. Er fotografierte den rätselhaften Gegenstand und widmete sich wieder dem eigentlichen Ziel, der Erforschung baulicher Spuren der Grönland-Missionierung.

War schon der Fund der Scheibe zufällig, so bedurfte es zweier weiterer Zufälle, bevor daraus das Gerüst einer grandiosen nautischen Theorie werden konnte. Zum einen tauchte die Aufnahme des Holzteils, ohne erkennbare Verbindung und Notwendigkeit, in einer wissenschaftlichen Publikation auf, die Vebæk 1952 in „The Illustrated London News“ über seine Klosterausgrabung veröffentlichte.

Die Fotografie betrachtete sich zufällig auch ein Mann, der eigentlich kein Erkenntnisinteresse an klerikalen Ruinen hatte: Kapitän Carl V. Sølver, damals der Direktor einer dänischen Firma für nautische Geräte. Er suchte Vebæk auf, trat mit dem Scheibensektor ans Fenster und sagte dann: „Kein Zweifel, dies ist ein Sonnenkompass, eine Peilscheibe.“

Kein Zweifel? Jeder Laie weiß schließlich: Eine Sonnenuhr braucht einen festen Standort. Würde man Schattenstab und Skala von einem venezianischen Glockenturm demontieren und an einem Lübecker Kirchturm befestigen, erhielte man unbrauchbare Angaben: Der Gang der Sonne über Venedigs Lagune ist ein ganz anderer als der über der Lübecker Bucht.


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mare No. 30

No. 30Februar / März 2002

Von Claus-Peter Lieckfeld

Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, ist Gründungsmitglied der Zeitschrift natur (Horst Sterns Umweltmagazin) und Autor von Kabarett-Texten, Hörspielen und Theaterstücken (Rats). Als Buchautor hat er als letztes an Tatort Wald, Nomaden des Windes (Mit Ingo Arndt) und Der frierende Eisbär (Tierportraits) gearbeitet. Lieckfeld schreibt überwiegend für GEO und die Zeit, aber auch für mare, MERIAN und die Süddeutsche Zeitung. Seine Themenschwerpunkte sind Ökologie, Flora und Fauna, Natur- und Umweltschutz, aber auch die historischen Romane Haithabu und Glendalough, die in der Wikingerzeit spielen, gehören zu seinem Repertoire. Den Keim seiner Meer-Liebe sieht der in Hanstedt, Nordheide, geborene Journalist und Autor in seinen Kindertagen, als Familienurlaube regelmäßig in Büsum stattfanden, wo ihn der Gezeitenwechsel tief aufwühlte und faszinierte. Lieckfelds gemeinsames Buch mit Monika Rössiger, Mythos Meer, geriet ihm streckenweise fachlich-biographisch.

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Vita Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, ist Gründungsmitglied der Zeitschrift natur (Horst Sterns Umweltmagazin) und Autor von Kabarett-Texten, Hörspielen und Theaterstücken (Rats). Als Buchautor hat er als letztes an Tatort Wald, Nomaden des Windes (Mit Ingo Arndt) und Der frierende Eisbär (Tierportraits) gearbeitet. Lieckfeld schreibt überwiegend für GEO und die Zeit, aber auch für mare, MERIAN und die Süddeutsche Zeitung. Seine Themenschwerpunkte sind Ökologie, Flora und Fauna, Natur- und Umweltschutz, aber auch die historischen Romane Haithabu und Glendalough, die in der Wikingerzeit spielen, gehören zu seinem Repertoire. Den Keim seiner Meer-Liebe sieht der in Hanstedt, Nordheide, geborene Journalist und Autor in seinen Kindertagen, als Familienurlaube regelmäßig in Büsum stattfanden, wo ihn der Gezeitenwechsel tief aufwühlte und faszinierte. Lieckfelds gemeinsames Buch mit Monika Rössiger, Mythos Meer, geriet ihm streckenweise fachlich-biographisch.
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Vita Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, ist Gründungsmitglied der Zeitschrift natur (Horst Sterns Umweltmagazin) und Autor von Kabarett-Texten, Hörspielen und Theaterstücken (Rats). Als Buchautor hat er als letztes an Tatort Wald, Nomaden des Windes (Mit Ingo Arndt) und Der frierende Eisbär (Tierportraits) gearbeitet. Lieckfeld schreibt überwiegend für GEO und die Zeit, aber auch für mare, MERIAN und die Süddeutsche Zeitung. Seine Themenschwerpunkte sind Ökologie, Flora und Fauna, Natur- und Umweltschutz, aber auch die historischen Romane Haithabu und Glendalough, die in der Wikingerzeit spielen, gehören zu seinem Repertoire. Den Keim seiner Meer-Liebe sieht der in Hanstedt, Nordheide, geborene Journalist und Autor in seinen Kindertagen, als Familienurlaube regelmäßig in Büsum stattfanden, wo ihn der Gezeitenwechsel tief aufwühlte und faszinierte. Lieckfelds gemeinsames Buch mit Monika Rössiger, Mythos Meer, geriet ihm streckenweise fachlich-biographisch.
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