Der Palast der Kosmographen

Ein Archiv in Sevilla birgt einen der größten Wissensschätze: die Akten der Konquistadoren. Für Schatzsucher ein Muss

Im Frühjahr 1773 wird Juan de Gálvez im Königlichen Zentralarchiv in Simancas vorstellig. Der Visitador, der Generalinspekteur des spanischen Überseebesitzes, wünscht von den Dokumentaren die Herausgabe von Akten, die seine Bemühungen zur Heiligsprechung von Juan de Palafox y Mendoza, dem Bischof von Puebla de los Ángeles in Neu-Spanien und kämpferischen Anti-Jesuiten, voranbringen könnten. In Wahrheit erhofft sich der Adelsmann, Unterlagen zu finden, die ihm helfen sollen, die gefährlich einflussreich gewordene Societas Jesu niederzuschlagen. Gálvez ist außer sich. Obwohl die Archivare des Königs einen legendären Ruf der Präzision und Zuverlässigkeit haben, sind die Dokumente unauffindbar – sei es, dass die erhofften Beweise nicht existieren, sei es, dass das zu sichtende Material zu umfangreich ist.

Voller Zorn erreicht Gálvez bei Hof, dass der gewaltigen Menge an Dokumenten aus den neuen Überseegebieten ein eigenes, effizienteres Archiv zugemessen werde. Seinem König Karl III. kommt das zupass; er hat noch ein Weiteres im Sinn. Seit langem wünscht er sich nämlich schon, dass das Gerede in Europa über spanische Grausamkeiten und religiöse Intoleranz in Übersee ein Ende habe, die antispanische Stimmung vielleicht gewendet werden könnte. Sie störte die glänzenden Geschäfte mit den Protestanten im Norden Europas. Eine neue Geschichtsdokumentation in dem Archiv, ja, eine neu geschriebene Geschichte, die, wohlgeordnet und realitätsnah, auch die Errungenschaften der Aufklärung in Spanien belegen sollte, könnte ihm dabei hilfreich sein. Karls Chefhistoriker Juan Bautista Múñoz soll gar als „Oberster Kosmograph“ eine regierungsfreundliche „Geschichte der Neuen Welt“ verfassen.

Karl beauftragt Gálvez, sofort einen Stab aus Beamten und Architekten zu bilden, um das neue Archiv samt seiner Neuordnung zu planen. Als Behausung soll die Lonja, die einst so prachtvolle Handelsbörse in Sevilla, hergerichtet werden.

Die Lonja in Sevilla! Fast 200 Jahre zuvor, im Frühjahr 1583, war ihr Grundstein gelegt worden, und es war auch der Grundstein für das Symbol des unübertrefflich immensen Reichtums der spanischen Krone und ihrer Führungsrolle in Europa. In ihren Loggien und Sälen hatten sich Händler aus ganz Europa getummelt, sich übertreffend darin, die reiche Fracht der Schiffe, die am nahen Torre del Oro, dem Lagerturm mit dem goldenen Dach am Ufer des Río Guadalquivir, entladen wurde, in der Alten Welt mit enormen Gewinnen zu verkaufen. Für lange Zeit war die Lonja das europäische Handelszentrum, und es glänzte weit heller als Venedig und die anderen Kaufmannsstädte.

War die Lonja das Gehäuse des neuen wirtschaftlichen Zentrums von Europa, so war das politische schon vorher geschaffen worden. Seit Kolumbus’ zweiter Reise war Sevilla das Verwaltungs-, Ausrüstungs- und Logistikzentrum der Reisen in die Neue Welt geworden. Die Gründe waren offenkundig: die geschützte Lage im Hinterland, die hoch entwickelten Werften, Proviant aus der reichen Landwirtschaft rings um Sevilla und die schnelle Anbindung über den Guadalquivir an den nur 40 Kilometer entfernten Atlantikhafen Cádiz. Und nicht zuletzt war Sevilla Kronbesitz – kein andalusischer Marqués wäre je auf den Einfall gekommen, des Königs neues Stabszentrum streitig zu machen.

Schon 1503 war die Casa de la Contratación begründet worden, die höchst effizient organisierte Verwaltungseinheit, die in den Königlichen Alcazares zu Sevilla logierte und von dort, mit den besten Beamten Philips II., alle administrativen, logistischen und juristischen Angelegenheiten der spanischen Eroberungen organisierte. Oberstes politisches Gremium war der Consejo de las Indias, der Königliche Oberste Rat, der auch die diplomatischen Big Points regelte wie die Demarkationslinie in Übersee zwischen Spanien und Portugal und, schwieriger noch, die päpstliche Anerkennung aller Rechte über die neuen Besitzungen – im Tausch gegen das Recht zu ihrer Christianisierung unter der Führung der Jesuiten. Consejo und Lonja bildeten alsbald ein in Europa einzigartiges, beängstigendes Zentrum politischer und ökonomischer Macht.

Jede neue Expeditionsfahrt wurde von hier aus genehmigt, finanziert, beurkundet, organisiert. Mit jeder Schiffsreise wuchs das Heer der Beamten; sie bildeten ein gewaltiges, allmächtiges Instrument zur Organisation der Eroberungszüge. Schiffbau, Ausrüstung, Ausbildung, Anwerbung, Kartografie, Buchhaltung, Kämmerei, Notariat, Rechtsprechung – alle Fäden liefen zusammen in den straff organi- sierten Verwaltungshierarchien, die bis heute Spaniens zuweilen gefürchtete Bürokratie prägen. Und wie es Bürokratien natürlich ist, häuften die Assessoren unüberschaubare Aktenberge, die mühevoll ins Königliche Zentralarchiv nach Simancas bei Valladolid verschafft wurden, um dort sicher verwahrt und verwaltet zu werden.


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mare No. 36

No. 36Februar / März 2003

Von Karl J. Spurzem

Karl J. Spurzem, Jahrgang 1959, ist Chef vom Dienst bei mare. In Heft No. 35 schrieb er über eine ehemalige Schmugglerbar an der Côte d’Azur.

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Vita Karl J. Spurzem, Jahrgang 1959, ist Chef vom Dienst bei mare. In Heft No. 35 schrieb er über eine ehemalige Schmugglerbar an der Côte d’Azur.
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Vita Karl J. Spurzem, Jahrgang 1959, ist Chef vom Dienst bei mare. In Heft No. 35 schrieb er über eine ehemalige Schmugglerbar an der Côte d’Azur.
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