Der nette Fisch von nebenan

Haie sind keine Mörder, meistens. Touristen prüfen ihren Mut

Das Meer versteckt die massigen Leiber. Irgendwo in der Tiefe unter dem Boot gleiten sie durch das Wasser, geräuschlos, unsichtbar. Als seien sie schuldig. Skipper André erzählt von diesen Leibern. Wie sie sich dir beim Tauchen nähern. Mit Vorliebe kommen sie von hinten, bleiben in deinem Rücken stehen, du siehst nichts, hörst nichts, du schaust einem Fisch nach, und wenn du dich umdrehst – zack! –, siehst du einem Weißen Hai direkt in die Augen. Das ist nicht böse gemeint. Die Tiere wollen nur auskundschaften, was neben ihnen im Meer schwimmt. Sie sind neugierig. Für Panik gibt es keinen Grund.

Gischt schlägt an der Bordwand des Bootes hoch, der Wind spannt die Ankerleine. Vom Festland her drängen Wolken über die Berge, sinken auf den Südatlantik und werfen ihr Schattenmuster auf das Wasser. Zwischendurch gleißt die Sonne und lässt das Meer grün leuchten. Frühlingswetter herrscht vor Kap Agulhas, dem südlichsten Punkt Südafrikas.

André lehnt am Steuer seines Bootes, acht Meter lang, eine Nussschale in meerblau. Das Boot rollt in den ruppigen Wellen. André ist ein Hüne mit sonnen-gebleichtem Haar, stets barfuß. Früher war er Querflötenspieler in einer Navyband und professioneller Taucher. Er mag Tätigkeiten, bei denen man nicht sprechen muss. Seine Überzeugung trägt er auf dem Rücken des Sweatshirts: „White Shark – 7 Million Years of Ocean Balance“. Dreht er sich, steht auf seinem Bauch: „Human Race – 1 Million Years of Instable Evolution“.

André bietet Tagesausflüge an. Für 100 Dollar führt er Touristen zu den Weißen Haien, die mit ihnen tauchen wollen. Ein Metallkäfig hält die Tiere auf Distanz. Als „Adrenalin Tour“ wird der Ausflug in der Werbebroschüre charakterisiert, als freiwillige Konfrontation mit der menschlichen Urangst.

Heute ist Andrés Boot halbvoll: vier zahlende Gäste. Cathy, Anne und Sarah sind von England hergekommen, für zehn Tage. Neun haben sie aus dem Katalog gebucht, als Garnitur um den Haitrip. Sarahs bunte Faserpelzjacke flattert im Wind, ihre Hände hat sie in die Ärmel zurückgezogen. Clark, der Amerikaner, trägt gelbes Ölzeug in Übergröße. Er wird den ganzen Tag trockene Bisquits kauen, schweigend. Die Bisquits halten den Magen ruhig. Die vier sitzen nebeneinander auf der Reling. Ihre Hinterteile hängen über Bord, ein Meter über Wasser, wie Räucherschinken im Gebälk. Gleich kommt der Fuchs.

Im Glauben der ozeanischen Urvölker haben die Brüder To Karvuvu und To Kabinana die Tiere der Welt erschaffen. To Karvuvu war unvorsichtig. Als er Geschöpfe schuf, die ihm beim Fischen helfen sollten, ließ er sie entweichen. Seither streifen die Haie durch die Meere. 374 Arten hat To Karvuvu erschaffen. An der Spitze der marinen Nahrungskette stehend, dominieren sie die Meere und erhalten das biologische Gleichgewicht. Ohne Haie vermehren sich die anderen Räuber ungehindert und fressen die Meere leer, bis auch das pflanzliche Plankton verschwunden ist. Das pflanzliche Plankton produziert zwei Drittel des Sauerstoffes der Erde. Und die Krone der Gattung sind die Weißen Haie.

Die mögen gemäßigt warme Zonen wie das Meer vor Südafrika. Gansbaai, ein ehemaliges Fischerdorf an der Walker Bay, ist das Zentrum des Shark Cage Diving. Zwei Stunden dauert die Autofahrt von Kapstadt durch die Berge, eine karge Buschlandschaft, ab und zu ein Pickup mit schwarzen Landarbeitern. Zusammen mit einem halben Dutzend Konkurrenten hat André in Gansbaai seine Basis. Heute ist das Dorf ein Pensionistenresort mit explodierenden Bodenpreisen. 3000 Touristen finden jährlich hierher und kaufen an der Dorfstraße die passenden Souvenirs: Haifischzähne, Haifischposter, Haifisch-T-Shirts.

In den frühen Morgenstunden wassert André sein Boot und fährt durch die ungestüme Dünung hinaus zu zwei kleinen Inseln elf Kilometer vor der Küste: Dyer Island und Geyser Rock. Dyer Island ist Naturschutzgebiet. Pinguine und Schwarze Kormorane brüten hier. Knapp über dem Gischt fliegen die Kormorane heran, dunkle Punkte in der Luft. Die Pinguine kämpfen gegen die Wogen, arbeiten sich auf die Wellenkämme, dann rutschen sie auf der anderen Seite herunter. Auf der Nachbarinsel Geyser Rock leben Seehunde. 40000 sollen es sein. Schwerfällig kriechen sie über das langgezogene Felsband, blökend wie eine hungrige Schafherde. Elegant gleiten sie durch das Wasser.

Zwischen den beiden Inseln liegt ein kaum zweihundert Meter breiter Wasserarm. Er wird als Shark Alley bezeichnet, als Allee der Haie. Hier wirft André Anker. Die Nussschale beginnt zu rollen und hört nicht mehr auf. Die Allee gilt als einer der weltweit besten Orte für die Beobachtung der Weißen Haie. Der Kanal ist ihr Jagdgrund, hier konzentrieren sie sich. Sie patrouillieren auf und ab, darauf wartend, dass ein Seehund die schützende Nähe des Felsens verlässt. Für die Haie bedeuten die Seehunde Speck und Fleisch im Überfluss. Es passiert nichts. Es passiert überhaupt nichts.

Noch nie attackierten in Südafrika die Haie so häufig wie 1998. 13 Angriffe wurden gezählt; sechs davon werden den Weißen angelastet. Die Zunahme scheint kein Zufall. Als George H. Burgess, Direktor der Forschungsstelle „International Shark Attack File“ an der Universität von Florida, Berichte über Haiangriffe zu sammeln begann, stellte er fest, dass die Attacken überall beständig zunehmen. Kaum zwanzig Meldungen weltweit fand er in den Jahren 1900 bis 1910; in den siebziger Jahren waren es 150, in den vergangenen sieben Jahren stieg die Zahl auf 330. Und nun dieser neue Spitzenwert aus Südafrika.

André geht zum Heck des Bootes, kniet nieder und hängt eine Haileber ins Wasser. Er hat das Organ aus der Fischfabrik von Gansbaai geholt, als Abfall. Es soll Haie anlocken. Das Fett der Leber treibt mit der Strömung und bildet eine Geruchsspur. Die Spur ist im Wasser als silbernes Band zu erkennen, anfänglich schmal, mit zunehmender Distanz zum Boot breiter werdend. Stoßen die Haie darauf, folgen sie dem Band wie ein Jagdhund. Sie werden aus Distanzen bis 500 Meter angezogen, so empfindlich sind ihre Nasen unter Wasser. Am Boot wartet als weiterer Köder ein abgetrennter Fischkopf, mit einem langen Seil an der Reling festgebunden. Verbeißt sich der Hai darin, kann der Skipper ihn heranziehen. Das ist Thrill für die Touristen.

11 Uhr 30. „Shark! Shark!“ Eine Flosse pfeilt durch das Wasser. Die erste nach zwei Stunden Wartezeit. „At the bait!“

Am Köder! Der Hai schwimmt darauf zu, zieht eine Kurve. Ein grauer Schatten im Wasser, majestätisch, kaum erkennbar bewegt er seinen massigen Körper. Gleich wird das Tier ein Loch in den Rumpf beißen, die beiden Außenborder zermalmen und mit dem Benzin spülen. Steven Spielberg und seine Jünger haben die Szene wiederholt gedreht: 1975, 1978, 1983, 1987. „Der weiße Hai“ begeisterte Millionen und verwandelte Vorurteile in Wahrheiten. Die Angst ist ein ewiges Thema.

Noch bevor der Hai den Köder erreicht hat, dreht er ab und verschwindet in die Tiefe. Er zeigt seine Schwanzflosse, kurz den weißen Bauch. Die Engländerinnen starren enttäuscht aufs Wasser.

11 Uhr 35. „Shark!“ Der Hai kommt zurück. André und sein Gehilfe Rozier kippen den Tauchkäfig ins Wasser, ein tonnenförmiges Gebilde, knapp unter der Oberfläche schwimmend. Cathy und Anne ziehen Anzüge und Masken an und klettern hinein. Der Deckel des Käfigs bleibt offen. Von den Wogen bewegt, soll er von alleine zufallen, doch der Seegang genügt nicht. Niemand auf dem Boot macht André darauf aufmerksam. Luftblasen steigen in kurzen Abständen aus der Tiefe auf, ein Zeichen, dass die beiden nervös sind. Der Hai ist verschwunden. Sind die Tiere wirklich so gefährlich, wie man sagt?

André spickt den Stummel seiner Zigarette ins Wasser. „Vergiss alles, was Spielberg erzählt. Es stimmt nicht. Die Haie haben alles andere im Sinn, als dich anzugreifen. Es sind sehr ängstliche Tiere.“ Ängstlich? „Ja. Sie fürchten sogar ein Seehundbaby, wenn es sich umdreht und auf sie zuschwimmt.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 14. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Christian Schmidt und Manuel Bauer

Autor Christian Schmidt, Jahrgang 1955, arbeitet als freier Journalist und Autor in Winterthur (Schweiz). Im Herbst veröffentlicht er als Herausgeber ein Buch über Solarenergie: Im Prinzip Sonne, Kontrast-Verlag, Zürich.

Fotograf Manuel Bauer, Jahrgang 1966, arbeitet seit 1988 als freier Fotograf, ist Gründungsmitglied der Agentur Lookat, Zürich, und lebt in Winterthur. Für beide ist dies der erste Beitrag in mare

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Vita Autor Christian Schmidt, Jahrgang 1955, arbeitet als freier Journalist und Autor in Winterthur (Schweiz). Im Herbst veröffentlicht er als Herausgeber ein Buch über Solarenergie: Im Prinzip Sonne, Kontrast-Verlag, Zürich.

Fotograf Manuel Bauer, Jahrgang 1966, arbeitet seit 1988 als freier Fotograf, ist Gründungsmitglied der Agentur Lookat, Zürich, und lebt in Winterthur. Für beide ist dies der erste Beitrag in mare
Person Von Christian Schmidt und Manuel Bauer
Vita Autor Christian Schmidt, Jahrgang 1955, arbeitet als freier Journalist und Autor in Winterthur (Schweiz). Im Herbst veröffentlicht er als Herausgeber ein Buch über Solarenergie: Im Prinzip Sonne, Kontrast-Verlag, Zürich.

Fotograf Manuel Bauer, Jahrgang 1966, arbeitet seit 1988 als freier Fotograf, ist Gründungsmitglied der Agentur Lookat, Zürich, und lebt in Winterthur. Für beide ist dies der erste Beitrag in mare
Person Von Christian Schmidt und Manuel Bauer