Der Nachtfalter

Wer zuletzt sinkt, gewinnt. Bei der Weltmeisterschaft der Papierbootbauer ist der Untergang das Maß aller Dinge

Ein Tropfen hat das Schiff versenkt. Abgesondertes Drüsensekret aus der Nase eines Jurors, eine schweißnasse Stirn, möglicherweise auch eine Träne, eine nicht abgetrocknete Hand. Menschliches Versagen. Das Schiff: schuldlos. Vier Monate hatte Bodo Jackstell an den Entwürfen für das Papierschiff gearbeitet, abends, wenn er von der Stralsunder Volkswerft nach Hause kam und man meinen konnte, er müsste erst noch hinter Gardinen warten, bis sich das Gewitter von Hammerschlägen aus seinem Kopf verzogen hatte.

Schreibtischlicht zu später Stunde. Bodo, der Nachtfalter. Knistern und Rascheln. Wann hat er schon einmal die Genugtuung, ein verpfuschtes Schiff in der Hand zerknüllen zu können? Stunden hat er in Schreibwarenläden nach dem Kleber mit dem meisten Lösungsmittel gesucht – „verdunstet und spart Gewicht“. Tage über Excel-Computertabellen gebrütet und sich zum Faltbootprinzip durchgerungen. „Viel Gewicht in Aussteifung, wenig in die Außenhaut.“ Dann der Einfall mit den Zugbändern. „Unter Druck knautscht Papier, aber zugstark ist es.“ Was an Wasserkraft den Rumpf quetscht, hat er umgelenkt auf Zugbänder, die das Schiff auseinander ziehen. Vier weitere Wochen geklebt und geschnitten, Papier um Zeltheringe gerollt, herausgezogen – fertig waren die Spanten. Der Clou mit dem Seidenpapier für die Außenhaut. Extrem leicht und wasserfest. Butterbrotpapier für die Zugbänder. Nicht schwerer als zehn Gramm darf das Schiff sein und nur aus Papier. Kleber und Schere sind erlaubt. Das ist die Wettkampfregel der Papierboot-Weltmeisterschaft.

Der Tag des Untergangs. Auf einer Auslage die Zier der Schiffstäuflinge. Pink und grün, manche schachtelförmig, manche bauchig. Einige sind in luftdicht verschweißtem Cellophan angereist, Jackstells Schiff kam per Post-Express. Der Meister selbst hatte auf der Werft zu bleiben.

Die Zugbänder sind der Hingucker, manchen beschlägt es die Brille. Andere blicken gelangweilt zur Seite – gäbe es da was zu schauen? Gesichter mit Lippenbartflaum und unreiner Haut. Dresscode: Sweatshirt mit Emblem der Schule. Man stellt sie sich in ihrer Freizeit in weißen Schutzkitteln vor, wie sie bunte Zutaten in brodelnde Flüssigkeiten gießen.

Der Beladungstest. Ein Papierschiff nach dem anderen wird in ein Becken zu Wasser gelassen und mit Luftgewehrmunition gefüllt, bis es sinkt. Die untergegangene Ladung wird aufgelesen und gewogen. Wer am meisten vertragen hat, gewinnt. Rings um das Becken wachen die Eigner. Ob denn auch die nassen Bleikugeln mit dem Föhn befächelt werden, bis das Trockengewicht wieder hergestellt ist. Gleiche Bedingungen für alle. Jackstell ist als einer der Letzten dran. Bleikugeln, vier Gramm das Stück und gestiftet vom Jagdverein, klickern in den Bauch des Schiffchens. Mit jedem Schwall taucht es tiefer ein. Zugbänder spannen sich.

Der Juror hätte sich auch über seine Kaffeetasse beugen können. Die Striemen waren nur auf einer Seite imprägnierbar. Auf die andere fiel der Tropfen. Das Band knallte. Jackstell fiel auf einen hinteren Platz. Das war im Jahr 2000. Hundejahre multipliziert man mit sieben. 2001 hätte Faktor 14 verdient: die Sache mit dem Faserdarmpapier, ein Hauch von Knittergewebe, das sich, wie sich zeigte, bräunlich löst wie Instantkaffee. 2002 doppelter Untergang mit „B(l)eiboot II“ und „B(l)eiboot III“. Dieses Jahr? „Wenn ich morgen gewinne, bin ich ab davon.“

Als sich vor sieben Jahren an der Universität Rostock genau zwei Studenten für den Hauptstudiengang Schiffbau einschrieben, suchten gestandene Maschinenbauer Hilfe in der Fachfremde und bemühten das Psychodeutsch. Dekan Robert Bronsart sprach vom „Verlust einer frühkindlichen Bindung“. Das Schiff, das wohl jeder in der Badewanne gehabt habe – im beruflichen Werdegang tauche es selten wieder auf. Schuld sei das „Bild vom nietenklopfenden, schmutzigen Raubein“, meint ein Kollege. Nicht besser präsentierten sich die Werften, zumal in Rostock. Abwicklungen, Fusionen, Entlassungen.


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mare No. 39

No. 39August / September 2003

Von Dimitri Ladischensky und Heike Ollertz

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, ist mare-Redakteur für Reisen und Genuss.

Heike Ollertz, geboren 1967, freie Fotografin in Berlin, hat Hüte aus Zeitungen gefaltet, wenn sie anstreichen musste. Für ein Schiff hat es nie gereicht.

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