Der Legitime Traum vom Wohlstand

Das moderne Piratentum gibt Robert Louis Stevensons Roman von der „Schatzinsel“ eine unerwartete politische Aktualität


Keine andere Abenteuergeschichte wurde so häufig verfilmt und bearbeitet wie Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“. Dabei spiegeln die Verfilmungen stets die Zeit, in der sie entstanden – und den Umgang mit dem Phänomen Seeräuberei. Waren in den ersten Bearbeitungen die Seeräuber noch Banditen, die es ihrer gerechten Strafe zuzuführen galt, änderte sich mit der Rückkehr der realen Piraten auch der Blick auf John Silver und seine Crew. Aus den Geächteten wurden soziale Opfer, die ihre einzige Chance auf Wohlstand ergreifen, die ihnen eine ungerechte Welt lässt. Damit hat die „Schatzinsel“ wieder jene Aktualität erlangt, die sie auch zu Stevensons Zeit besaß, denn Seeräuberei war schon immer in erster Linie ein soziales Problem.

„Die Schatzinsel“, das ist schon bei Stevenson ein Symbol für ein besseres Leben in einer Welt, in der die Grenzen zwischen Arm und Reich auf legalem Weg unüberwindbar sind. Am deutlichsten wird das in der ambivalenten Figur des Schiffskochs John Silver. Denn während die von Geburt an Wohlhabenden, der Squire und der Doktor, mit der Schatzsuche lediglich ihren schon vorhandenen Reichtum mehren wollen, während der Squire seinen Besitz nutzt, um Jim einen beträchtlichen Anteil seines Schatzes abspenstig zu machen, sind Silvers Pläne erstaunlich bodenständig für einen Piraten. Der Koch lebt in einer festen Beziehung mit einer „Neger-Braut“, einer ehemaligen Prostituierten und Sklavin, die er aus Zuneigung freigekauft hat. Mit Flints Schatz will er in die Upperclass der britischen Gesellschaft aufsteigen und „in einer Kutsche fahren“. Er weiß: Ohne Geld ist dieser Aufstieg nicht möglich, und er wäre wohl auf ewig verdammt, in seiner Kneipe für wenig Geld betrunkene Seeleute zu bedienen, ohne eine Chance auf Aufstieg.

Dass es bei Silver einmal anders war, zeigt seine wenig verklausulierte Identifikation mit Jim Hawkins; er selbst war einmal dieser abenteuerlustige Junge auf der Suche nach den Schätzen, die das Leben bereithält. Und er selbst stand einmal vor der Frage, den Weg in die Illegalität zu gehen, um aufzusteigen oder auf ewig Wasserträger in einer Gesellschaft zu bleiben, in der die Armen legal und von Staats wegen in den oft tödlichen Dienst bei der Royal Navy gepresst werden können. Er hat anders entschieden als Jim; aber Jims langes Zögern, sein unwahrscheinlich langes und weitgehend unbehelligtes Wandeln zwischen den Seeräubern und der etablierten Gesellschaft um Kapitän, Squire und Doktor ist das eigentliche Thema der Geschichte Stevensons. Hier entscheidet sich einer im Angesicht der Schätze im letzten Augenblick gegen die Seeräuberei, aber er tut das nur mit dem Lohn eines sicheren Schatzes vor Augen. Kein Mensch weiß, was aus Jim Hawkins ohne Flints Schatz als Lebensversicherung geworden wäre.

Das Potenzial einer Auseinandersetzung zwischen Legalität und Illegalität, zwischen Standesgrenzen und Verteilungsgerechtigkeit, es ist in Stevensons Vorlage angelegt. Und so erzählt es viel über die Geisteshaltung einer Gesellschaft, wie der Evergreen der Jugendliteratur rezipiert wird. Denn eine Sympathie für den Teufel, für Piraten, die sich mit Gewalt nehmen, was die Gemeinschaft ihnen verwehrt, birgt einen Sprengstoff, den vor allem die frühen „Schatzinsel“-Bearbeitungen systematisch zu verbergen versuchten.

Wie auch der ZDF-Fernsehvierteiler aus dem Jahr 1966. Die Kulturrevolution der 68er, sie lag noch vor (West-)Deutschland. Die Gesellschaft folgte gesellschaftlichen Idealbildern, die seit dem Ende des Deutschen Kaiserreichs sowohl die Weimarer Republik als auch den Terror der Nationalsozialisten überstanden hatten, allen voran die deutsche Sehnsucht nach Ordnung und die German Angst vor Umbrüchen. Der repressive Charakter einer Gesellschaft, die Revolutionen und Veränderungen jeglicher Art verachtete, findet sich auch massiv in der Adaption von Stevensons Schatzinsel vor den Kulissen des Gardasees und den rauen Stränden der „Karibikinsel“ Korsika wieder.

Hier sind die Piraten seelenlose Verbrecher, die die unumstößliche Ordnung einer zementierten Klassengesellschaft zwar empfindlich stören, aber nicht umstoßen können. Gleich in mehreren Szenen, etwa beim Tod des alten Freibeuters Billy Bones im Gasthaus „Zum Admiral Benbow“, wird mit erhobenem Zeigefinger darauf hingewiesen, wie sinnlos dieser alte Freibeuter sein Leben vertan habe. Und wie wenig ein Terroristendasein außerhalb der Ordnung lohnt. Ob es für einen Seeräuber wie Billy Bones Alternativen gegeben hätte und was für ein Leben das gewesen wäre, kommt nicht zur Sprache. Die gesellschaftlichen Verhältnisse zu akzeptieren, das wird von den Menschen abverlangt, allem voran eine Güterverteilung, die die Bevölkerung in Arm und Reich aufteilt und auch Jim Hawkins und seiner Mutter nicht mehr als das Nötigste lässt.


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mare No. 102

No. 102Februar / März 2014

Von Alexander Kohlmann

Die Jagd nach literarischen und theatralen Schätzen treibt auch Alexander Kohlmann um. Der in Hamburg lebende Kulturjournalist und Dramaturg studierte Medienwissenschaft, Geschichte und Theaterregie in Berlin und Hamburg. Für mare schrieb er bereits über das Kreuzen auf den Theatermeeren (No. 88), den Mythos des Untergangs der „Titanic“ (No. 91) sowie über die Kulturgeschichte des Geisterschiffs (No. 99).

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Vita Die Jagd nach literarischen und theatralen Schätzen treibt auch Alexander Kohlmann um. Der in Hamburg lebende Kulturjournalist und Dramaturg studierte Medienwissenschaft, Geschichte und Theaterregie in Berlin und Hamburg. Für mare schrieb er bereits über das Kreuzen auf den Theatermeeren (No. 88), den Mythos des Untergangs der „Titanic“ (No. 91) sowie über die Kulturgeschichte des Geisterschiffs (No. 99).
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Vita Die Jagd nach literarischen und theatralen Schätzen treibt auch Alexander Kohlmann um. Der in Hamburg lebende Kulturjournalist und Dramaturg studierte Medienwissenschaft, Geschichte und Theaterregie in Berlin und Hamburg. Für mare schrieb er bereits über das Kreuzen auf den Theatermeeren (No. 88), den Mythos des Untergangs der „Titanic“ (No. 91) sowie über die Kulturgeschichte des Geisterschiffs (No. 99).
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