Der Kybernex im Digizän

Die noch junge Epoche der KI verwendet auffällig oft Analogien aus Nautik und Schiffsnavigation. Das hat seine Gründe

Das Meer steuert die Menschheit, ohne dass die meisten Menschen es wissen. Was sie spüren, sind Orkane, Extremregenfälle und Dürren. Das Meer aber ist die heimliche Regentin der Welt, und wer das immer schon geahnt hat (da laut Thales von Milet alles, was ist, dem Wasser entstammt), nimmt es wie selbstverständlich als Analogie in Anspruch: das Meer an Information in der Informationsgesellschaft, das Meer an Möglichkeiten in der Multioptionsgesellschaft, das Meer an Daten in der Digitalokratie etc. Meer ist Metapher für Masse und Macht, für die Unüberschaubarkeit des Unbekannten. In der Mythisierung des Meers schwingt Respekt, Erhabenheit, auch Bewunderung mit, zugleich aber auch die Angst vor dem Ausgeliefertsein. 

Die Meere sind seit je eine Herausforderung durch das maximal Unwägbare, weshalb für Aufbruch wie Scheitern gern nautische Redewendungen bemüht werden: Kurs setzen, Kurs halten, auf Kurs sein, Segel hissen, Kapitän auf der Brücke sein, durch Wellen steuern, Schiffbruch erleiden, auf Sand oder aus dem Ruder laufen, untergehen. Wer in See sticht, bricht, selbst wenn seine Navigationsgerätschaft Zielkoordinaten programmiert hat, immer zu neuen Ufern auf – ob man je richtig orientiert ist, steht auf einem anderen Blatt. Von kolumbischer Hemisphärenverirrung bis zur heldenhaften Suche nach dem eigenen Ithaka ist in Bezug auf Orientierung bekanntlich alles möglich. 

In seinem Buch „Im Weltinnenraum des Kapitals“ vermerkte Peter Sloterdijk quasi hellsichtig: „Der nautische Geist braucht keine Fundamente, sondern Umschlagplätze.“ So ist es: Der Verstand des Menschen kann sich weder Unendlichkeit noch Ewigkeit vorstellen, also benötigt er eine stabile Grund­lage, auf die er sich stellen kann: Kais, Brücken, Plattformen. Weil der Verstand immer Anfang und Ende braucht, um sinnstiftend handeln zu können, erfand der Mensch Techniken, um Wege, Tiefen und Gezeiten auszuloten: Sextant, Sonar, Strömungsmesser. Das Digizän, die Epoche der Künstlichen Intelligenz, erfordert wie lange keine Epoche vor ihr navigatorische Vermessenheit und ein ozeanisches Gefühl. Es verlangt NI, Nautische Intelligenz. Das Zeitalter des Digitalen hat gerade erst begonnen und wird künftig so gut wie alles durchdringen.

Navigationsarbeit in der Epoche des Digitalen ist nichts anderes als Psychonautik: Jede Einzelne ist Steuerfrau, jeder Einzelne Steuermann des eigenen Schiffs auf dem Meer der Großen Transformation. Jede und jeder muss sich arrangieren. Je massiver die zu transformierende Masse, desto wichtiger die Statio­nen zum Umschlag. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine, die Verflechtung der Handelswege, die Frequenz der Knotenpunkte und die Verflochtenheit der Netzwerke sind an Komplexität nicht zu überbieten und an Ungewissheit nicht zu schlagen. Verstehen wir die kommende Welt des Digizäns also besser, wenn wir sie vom Meer aus denken – so, wie man das Leben womöglich bewusster führt, denkt man es vom Tod her?

You are basically a Cyborg, sagen Human-Resources-Manager heute an niemanden und alle gerichtet, weil sie meinen, dass das komplette Wissen des Internets potenziell allen, im Speziellen aber jenen zur Verfügung steht, die es zu nutzen verstehen. Je höher die Komplexität, desto nötiger Nautische Intelligenz. Navigatorisch inkompetente Zeitgenossen wiederum steuern selten sich selbst und warten – das smarte Gerät in den Händen – in verblüffender Bereitschaft zur Passivität darauf, von Algorithmen und Software gesteuert zu werden. Und wenn das Schiff auf Grund läuft – liegt es dann, wie der österreichische Managementlehrer Fredmund Malik vermutet, an „falsch programmierten Navigationssystemen“, deren Strukturen noch im 20. Jahrhundert verankert sind?

Mit der Infrastruktur des 20. Jahrhunderts, behauptet Malik, könne man die Herausforderungen des 21. nicht bewältigen. Zwischen beiden Jahrhunderten liegen, nautisch gesehen, neue Welten: die Paradigmenwechsel vom linguistic zum iconic, vom iconic zum digital turn, mehrere Strukturwandel vom Analogen zum Digitalen sowie die permanente Revolution einer Technologie, die den Menschen immer ein Stückchen mehr zu ersetzen scheint – und irgendwann zum Treibgut machen könnte. Ob solcherart Fortschritt nun gut oder schlecht ist, sei vorerst dahin­gestellt, jedenfalls entscheidet über den Erfolg eines Tauchgangs in die Tiefe des Digitalraums nicht allein die Technik, sondern deren Steuerung durch persönliches Prozessmanagement.


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mare No. 163

mare No. 163April / Mai 2024

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als ­literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Zu seinen Büchern zählen der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als ­literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Zu seinen Büchern zählen der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als ­literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Zu seinen Büchern zählen der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
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