Der Kuss des Seelöwen

Artistin und Robben verzaubern jedes Zirkuspublikum im Nu. Aber wie vertragen sie sich im Alltag? Das Porträt einer Beziehung

Die verdiente Artistin Russlands, Irina Nikolajewna Sapaschnaja, sitzt im Fond eines Moskwitsch, während ihr Chauffeur den Wagen mit soldatischer Ruhe durch die Zumutungen des Berufsverkehrs dirigiert. Ein typischer Moskauer Morgen. Ein Ostwind fegt ein Rudel Hunde um die Häuserecken. Auf dem Roten Platz paradieren schon wieder die Fremden. Vor der neu errichteten, einst vom bolschewistischen Furor vernichteten Kirche Christi Erlöser nehmen die Bettler ihre Demutsposen ein und bedenken den Passanten, je nach Freigebigkeit, mit Wünschen und Verwünschungen.

Wenige Minuten vor neun hält, wie jeden Morgen, der weiße Wagen zentimetergenau vor dem Neuen Moskauer Staatszirkus. Die Verdiente Artistin Russlands, in eine voluminöse Rotfuchsjacke gehüllt, läuft leichten Schrittes Richtung Personaleingang, auf hohen, spitzen Absätzen. Die beiden Pförtner in ihrem gläsernen Kabuff, von wo aus sie das Geschehen am Personaleingang protokollieren, haben Haltung angenommen.

Eine Frau wie Irina Nikolajewna tritt nicht einfach ein, sie tritt auf. Das Erscheinen dieser Veteranin der gehobenen Unterhaltung mit dieser maßvoll domestizierten Wildheit ihrer kupferroten Haarmähne und den an den Ohrläppchen glitzernden Blüten aus Strasssteinchen hat in der turnhallenartigen Kargheit der Eingangshalle etwas Großartiges. Im schmutzigen Licht des Entrees hat der Auftritt der Artistin etwas von Liberace. Die Männer eskortieren die Künstlerin mit guten Wünschen für den Tag einige Meter Richtung Manege, bevor sie sich schweigend auf ihren Beobachtungsposten zurückziehen.

Der Arbeitsalltag der Irina Nikolajewna kommt ohne Fellinische Knalleffekte aus. Er ist von einer stechuhrhaften Präzision, einem Gleichmaß, das als Futter für romantische Fantasien nicht taugt. Der Alltag ist bestimmt von den Bedürfnissen der Kalifornischen Seelöwen, mit denen die Artistin seit acht Jahren in russischen und ausländischen Manegen Applaus kassiert: morgens Training, abends Vorstellung, zwei Mal am Tag Fütterung.

Die Luft in der Manege ist mit flüchtigem Fischgeruch parfümiert, aus der Ferne, von dort, wo die Stallungen zu vermuten sind, dringt das Bassgeheul von fünf Seelöwen. Ein zottiger Hund trottet vorbei, hebt kurz den Kopf und schickt dem Seelöwenchor ein dünnes Solo entgegen. Jaulend schieben drei Kalifornische Seelöwen ihre massive Leiblichkeit durch einen spärlich beleuchteten Flur Richtung Manege, klettern überraschend behände auf einen thronartigen Hocker, wo sie sich ungeduldig wieder und wieder um die eigene Achse drehen: Timofej, männlich, neun Jahre, Maja, weiblich, acht Jahre, Goscha, männlich, sechs Jahre.

Die Literatur nennt diese Tiere aus der Familie der Ohrenrobben spielfreudig und lernbegierig, in ihren Augen schimmert die Neugier. Diese Seelöwen haben nichts von der servilen Gefolgschaft eines Hundes, der auf Zuruf den Pantoffel apportiert. Sie wirken selbstbewusst und demonstrieren ihre Dressiertheit voller Stolz. Bei aller Spielfreude ist das Verführungspotenzial einer um die Taille der Dompteurin gebundenen, mit Tintenfischen gefüllten Tasche nicht zu unterschätzen. Jede Pirouette, jedes Ballspiel, jeder Handstand wird mit einem raschen Griff in jene Tasche pariert. Die Tiere tänzeln auf den fleischigen Vorderflossen, drehen schwungvoll den Hula-Hoop-Reifen um den kräftigen Körper, und Goscha legt seine feuchten Flossen um die Taille der Frau, die er, so aufgerichtet, um Kopfeslänge überragt; er übernimmt die Führung in diesem ungleichen Pas de deux.

Nur gelegentlich gerät die Choreografie durcheinander, denn der Anblick eines Tintenfischs, der im Maul eines anderen verschwindet, bedroht auch in der Kunstwelt Zirkus den sozialen Frieden innerhalb einer Meute. Irina Nikolajewna ist großzügig im Verteilen von Kleinfischen und Komplimenten: Ah, meine Schöne, zwitschert sie, und meint Maja; ah, mein Kluger, ruft sie, und meint Timofej. Eine Zirkusveteranin weiß um den Nährwert eines freundlichen Wortes.

Und nun heißt es domoj, domoj, nach Hause, nach Hause. Es ist ein Wort, das in seiner Suggestivkraft zu groß ist für den gefliesten, mit Kunstlicht gefüllten Raum, in dem drei ausgewachsene und zwei heranwachsende Seelöwen den größten Teil ihrer Tage und Nächte verbringen. Die Tiere leben im Zustand komfortabler Gefangenschaft: Ein wohltemperiertes Salzwasserbassin, kiloweise Frischfisch täglich sind nicht mehr als ein Zitat jenes Abenteuers Freiheit, das ihnen ein Leben lang verwehrt bleiben wird. Abends um sieben steht Irina Nikolajewna, angetan mit Gummischürze und Gummistiefeln, noch einmal in diesem kühlen Raum, umringt von Tieren, die in dieser Nähe fast bedrohlich wirken mit ihrer jeweils mehr als 300 Kilogramm schweren Körperfülle. Ihren gigantischen Appetit kommentieren die im benachbarten Stall logierenden Braunbären mit Poltern und Wehklagen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 44. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Von Sabine Riedel und Gueorgui Pinkhassov

Sabine Riedel lebt als Autorin in München. Bei einer Fahrt durch Moskau gestand Irina Sapaschnaja nicht nur ihre Leidenschaft für französische Eclairs, sondern auch für Adriano Celentano. Sein „Azzurro“ ließ für einen Moment den Schrecken der Rush-hour vergessen.

Gueorgui Pinkhassov, Jahrgang ’52 und Mitglied der Pariser Fotoagentur Magnum, war besonders vom Seelöwen Goscha angetan. Nicht nur, weil die beiden denselben Namen tragen – Goscha ist die russische Kurzform von Georgi –; nicht nur, weil beide rohen Fisch mögen; und auch nicht allein deshalb, weil Pinkhassov im Sternzeichen Löwe geboren ist. „Vor allem, weil Goscha ist wie ich“, so der Fotograf. „Er macht nie, was er soll.“

Mehr Informationen
Vita Sabine Riedel lebt als Autorin in München. Bei einer Fahrt durch Moskau gestand Irina Sapaschnaja nicht nur ihre Leidenschaft für französische Eclairs, sondern auch für Adriano Celentano. Sein „Azzurro“ ließ für einen Moment den Schrecken der Rush-hour vergessen.

Gueorgui Pinkhassov, Jahrgang ’52 und Mitglied der Pariser Fotoagentur Magnum, war besonders vom Seelöwen Goscha angetan. Nicht nur, weil die beiden denselben Namen tragen – Goscha ist die russische Kurzform von Georgi –; nicht nur, weil beide rohen Fisch mögen; und auch nicht allein deshalb, weil Pinkhassov im Sternzeichen Löwe geboren ist. „Vor allem, weil Goscha ist wie ich“, so der Fotograf. „Er macht nie, was er soll.“
Person Von Sabine Riedel und Gueorgui Pinkhassov
Vita Sabine Riedel lebt als Autorin in München. Bei einer Fahrt durch Moskau gestand Irina Sapaschnaja nicht nur ihre Leidenschaft für französische Eclairs, sondern auch für Adriano Celentano. Sein „Azzurro“ ließ für einen Moment den Schrecken der Rush-hour vergessen.

Gueorgui Pinkhassov, Jahrgang ’52 und Mitglied der Pariser Fotoagentur Magnum, war besonders vom Seelöwen Goscha angetan. Nicht nur, weil die beiden denselben Namen tragen – Goscha ist die russische Kurzform von Georgi –; nicht nur, weil beide rohen Fisch mögen; und auch nicht allein deshalb, weil Pinkhassov im Sternzeichen Löwe geboren ist. „Vor allem, weil Goscha ist wie ich“, so der Fotograf. „Er macht nie, was er soll.“
Person Von Sabine Riedel und Gueorgui Pinkhassov