Der Krokodilflüsterer

Unser Autor lernte auf jahrelangen Reisen eine der aufregendsten Kreaturen der Welt kennen: Australiens Salzwasserkrokodil

Heute weiß ich nicht mehr, wie es sich angefühlt hat, damals, als ich mich in der irdischen Hölle wähnte und eine halbe Nacht lang – in unbeschreiblicher Angst – ernsthaft glaubte, der leibhaftige Teufel habe mir den Weg abgeschnitten. Diese Stunden waren die verzweifeltsten meines gesamten Lebens.

Bestimmte Geschehnisse hatten mich in den Tagen zuvor bereits in ein Nervenbündel verwandelt, und nun lauerte er da vor mir und wartete auf mich. Hätte mir zu diesem Zeitpunkt jemand vorausgesagt, dass ich in den folgenden Jahren immer wieder, jeweils für mehrere Monate, zurück in die Reviere des vermeintlich Bösen ziehen und in diesem bald schon das Gegenteil des Bösen erkennen würde – ich hätte ihn für verrückt gehalten.

Es braucht wohl eine gründliche Erklärung, um diese etwas verworren klingende Situationsbeschreibung vernünftig erscheinen zu lassen. Also, zunächst einmal zum Ort des Geschehens: Ich befand mich damals am westlichen Rand der Princess Charlotte Bay, einer etwa 50 Kilometer breiten Meeresbucht auf der Ostseite der Cape-York-Halbinsel, weit oben im fast völlig unbesiedelten Nordosten Australiens. Ein Großteil des dortigen Ufers ist von dichten, undurchdringlichen Mangrovengürteln gesäumt; der Meeresgrund ist sehr schlammig, sodass aufgewühlte Sedimente das ufernahe Wasser vor allem bei niedrigem Tidenstand und hohem Wellengang zu einer tintentrüben, warmen Brühe werden lassen.

Im Hinterland erstreckt sich ausgedehntes, brütend heißes Marschland, das sich in der trockenen Jahreszeit nur ein paar Mal im Monat, bei Pegelhochstand, mit Meerwasser füllt und ansonsten einen unwirtlichen Mix aus getrocknetem Schlammboden, salzigen Sümpfen und Abermillionen Moskitos bildet. Von hier aus gibt es an der Tropenküste sowohl nach Süden als auch nach Norden hin über Hunderte Kilometer kein Haus und keine Straße.

Eigentlich ist sogar die gesamte Ostküste der Cape-York-Halbinsel nördlich der einstigen Goldgräbersiedlung Cooktown über etwa 800 Kilometer hinweg weitestgehend menschenleer – was nicht zuletzt daran liegt, dass die europäischen Kolonialisten vor weniger als 150 Jahren im Edelmetallrausch und unter ausgiebiger Verwendung ihrer Schusswaffen die jahrtausendealten Kulturen der hiesigen Ureinwohner innerhalb weniger Jahrzehnte größtenteils vernichteten.

Ich war damals, im Jahr 2004, mit einem Seekajak unterwegs, das ich mir in der touristisch geprägten Stadt Cairns gekauft hatte. Von dort aus wollte ich über einen Zeitraum von drei Monaten die Ostküste hinaufpaddeln, nach etwa 1000 Kilometern den nördlichsten Punkt des Kontinents, Cape York, umrunden und die Reise schließlich auf Thursday Island, einem erschlossenen Außenposten des australischen Staates und fast schon in Sichtweite Papua-Neuguineas gelegen, vollenden. Es ging mir darum, eben jene unbesiedelte Festlandküste nördlich von Cooktown ausgiebig zu erkunden und mir dabei die Nahrung so weit wie möglich in der freien Natur zu beschaffen. Da ich schon oft monatelange Kajaktouren an den Küsten anderer Kontinente unternommen hatte, glaubte ich, über die nötige Erfahrung für diese Expedition zu verfügen.

Erst zwei Tage vor meiner Abfahrt geriet ich dann ins Zweifeln. In einem kleinen Pub in der Stadtmitte von Cairns hatte ich meinem zufälligen Thekennachbarn, einem vollbärtigen, großflächig tätowierten Australier, erzählt, was ich vorhatte. Da schaute mich dieser scharf an und sagte laut: „Ist das dein Ernst? Du bist verrückt!“ Dann erklärte er mir, dass ich mich in größte Gefahr begeben würde. Es ging ihm dabei nicht um den zu dieser Jahreszeit starken Südostpassat mit meterhohem Seegang, auch nicht um die heikle Trinkwasserfrage. Nein, das Allergefährlichste sei ein bestimmtes Tier: das Salzwasserkrokodil.

Selbstverständlich hatte ich mich bei meinen Vorbereitungen durchaus mit diesem Lebewesen beschäftigt. So wusste ich, dass es sich mit bis zu sechs Meter Körperlänge und einer Tonne Gewicht um das größte Reptil unseres Planeten handelt. Auch war mir klar, dass Begegnungen mit der Kreatur unausweichlich sein würden, selbst wenn ich ihre Kernreviere in den Flusssystemen strikt mied. Salzwasserkrokodile verbringen beträchtliche Teile ihres Lebens im Meer und jagen dort. Ich hatte des Weiteren gelesen, dass sie nicht nur Fische und Krabben fressen, sondern auch große Säugetiere bis hin zu ausgewachsenen Rindern. Und manchmal auch Menschen.

Meine Thekenbekanntschaft wusste aber scheinbar noch viel mehr. Diese großen Reptilien seien „primitive, unberechenbare Ungeheuer“, erklärte der Mann, „grausame Monster“, die nur zweierlei im Sinn hätten: töten und fressen. Er sagte: „Wenn es dich anschaut, dann will es dich verschlingen. Du hast in deinem winzigen Boot keine Chance.“ Das Größenverhältnis zwischen Mensch und Salzwasserkrokodil sei in etwa so wie zwischen „einer kleinen Raupe und einer Eidechse“. „Lass es sein“, gab er mir beim Abschied auf den Weg und schaute mir sekundenlang tief in die Augen.


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mare No. 97

No. 97April / Mai 2013

Von Steffen Pichler 

Eigentlich ist Steffen Pichler, Jahrgang 1967, Unternehmensberater in Frankfurt, ein kommunikativer Mensch. Trotzdem liebt er es seit dem Ende der 1980er Jahre, sich über Monate alleine in menschenleeren Gegenden per Kajak oder zu Fuß zu bewegen. Zurück in der Zivilisation, achtet er sorgfältig darauf, weder etwas zu kaufen noch etwas zu konsumieren, was in irgendeiner Weise von Tieren in Gefangenschaft stammt.

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Vita Eigentlich ist Steffen Pichler, Jahrgang 1967, Unternehmensberater in Frankfurt, ein kommunikativer Mensch. Trotzdem liebt er es seit dem Ende der 1980er Jahre, sich über Monate alleine in menschenleeren Gegenden per Kajak oder zu Fuß zu bewegen. Zurück in der Zivilisation, achtet er sorgfältig darauf, weder etwas zu kaufen noch etwas zu konsumieren, was in irgendeiner Weise von Tieren in Gefangenschaft stammt.
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Vita Eigentlich ist Steffen Pichler, Jahrgang 1967, Unternehmensberater in Frankfurt, ein kommunikativer Mensch. Trotzdem liebt er es seit dem Ende der 1980er Jahre, sich über Monate alleine in menschenleeren Gegenden per Kajak oder zu Fuß zu bewegen. Zurück in der Zivilisation, achtet er sorgfältig darauf, weder etwas zu kaufen noch etwas zu konsumieren, was in irgendeiner Weise von Tieren in Gefangenschaft stammt.
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