Der Junge aus Wulaia

An Bord der HMS „Beagle“ lernte Charles Darwin den 15-jährigen ­Jemmy Button kennen, einen aus Feuerland verschleppten Ureinwohner. Er wurde zum Vorbild für Michael Endes Kinderbuchhelden „Jim Knopf“

Es war ein wundersames Ding, das da in der Hand des weißen Mannes lag und den tief hängenden Herbsthimmel Patagoniens spiegelte. Es schimmerte matt wie die Innenseiten der Seemuscheln, nach denen die Frauen von Wulaia im Sommer tauchten, und war doch kaum größer als das Auge eines Albatros. Wie hätte er wissen sollen, dass dieses Ding andernorts noch nicht einmal den Knochen eines Guanakos wert war? Er, der Indianerjunge vom Ende der Welt. Neugierig näherten sich die Kanus der Feuerländer dem Boot der Fremden.

Das Ding, der Perlmuttknopf, wurde sein Schicksal. Sie nannten ihn nach dem Tauschobjekt, das sein Leben zerreißen sollte: Jemmy Button, Jim Knopf.

Vielleicht ist bereits jener allererste überlieferte Teil aus dem abenteuerlichen Leben des Feuerländers Orundellico frei erfunden oder verwegen beschönigt. Es lässt sich nicht mehr überprüfen. Der einzige Nachweis, wie die bemerkenswerte Reise des Jungen vom Volk der Yámana begann, aus dem später Michael Endes Kinderbuchfigur Jim Knopf werden sollte, notierte Captain Robert FitzRoy am 11. Mai 1830 in sein Tagebuch: „Wir gaben ihnen ein paar Perlen und Knöpfe für etwas Fisch, und ohne dass ich es vorher geplant hatte, forderte ich einen Jungen auf, aus seinem Kanu in unser Boot herüberzukommen. Der Junge kam sofort in mein Boot und setzte sich hinein. Ich gab dem Mann, der bei ihm war, einen großen schimmernden Perlmuttknopf.“

So begann mit einem Knopf die Verschleppung eines Indigenen vom letzten Zipfel Südamerikas in den fernen Norden der Erde. Die expandierende Kolonialmacht Großbritannien ließ Seide aus China, Elfenbein aus Natal und Pfauen aus Indien die Themse hinaufschiffen. Und manchmal zur Freude der sensationslustigen Londoner High Society auch einen Südseeinsulaner, ein „Negerweib“ vom Kilimandscharo oder eben einen „Wilden“ aus Feuerland. Oder sollen wir glauben, dass der Kapitän eines Vermessungsschiffs einen Indianerjungen aus zerrütteten Familienverhältnissen befreite, um ihn in die zivilisierte britische Lebensart einzuweisen?

König William IV. persönlich, so heißt es, empfing den Teenager vom Ende der Welt, der damals höchstens 15 Jahre alt war. Er wurde zusammen mit drei anderen Ureinwohnern nach London verfrachtet. Ein vierter Feuerländer war kurz nach seiner Ankunft an den Pocken gestorben. In England stand der Pubertierende plötzlich Adeligen und Oxford-Professoren gegenüber, in strammen Zwirn gesteckt, die Taille mit einem Schnürgürtel wie ein Korsett verengt. Auf einer zeitgenössischen Zeichnung ist er mit Stehkragen und Biedermeierschleife porträtiert, er, dessen Volk keine Kleidung kannte und sich vor der Kälte Patagoniens allein durch das Einreiben mit Tierfetten schützte. Wie Hunderte andere, die später auf Jahrmärkten und in Zoologischen Gärten als exotische Wilde zur Schau gestellt wurden, wäre Orundellico alias Jemmy Button wohl schnell in Vergessenheit geraten, hätte es sein Schicksal nicht so gewollt, dass er durch Zufall einem der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit begegnete.

Am 10. Dezember 1831 bricht die HMS „Beagle“ von Devonport nach Südamerika auf. An Bord ist neben Orundellico auch Charles Darwin. Für den jungen Naturforscher, dessen Expedition erst ein Jahr später Patagonien erreichen sollte, waren die nackten Ureinwohner beeindruckender als die gewaltigen Gebirgszüge und Gletscher Feuerlands.

In sein Tagebuch notierte er: „Ich habe nichts gesehen, was mich mehr in Erstaunen versetzt hätte, als der erste Anblick eines Wilden. Es war ein nackter Feuerländer, sein langes Haar wehte umher, sein Gesicht war mit Erde beschmiert. In ihren Gesichtern liegt ein Ausdruck, der, glaube ich, all denen, die ihn nicht gesehen haben, ganz unbegreiflich wild vorkommen muss. Auf einem Felsen stehend, stieß er Töne aus und machte Gestikulationen, gegen die die Laute der domestizierten Tiere weit verständlicher sind.“

Den mittlerweile zivilisierten Orundellico, der ihn auf der „Beagle“ begleitete, schilderte Darwin deutlich sympathischer als seine wilden Brüder am Ende der Erde. „Jemmy Button war der Liebling aller, aber ebenfalls leidenschaftlich; sein Gesichtsausdruck zeigte sogleich sein freundliches Gemüt. Er war fröhlich, lachte oft und war bemerkenswert mitfühlend mit allen, die Schmerzen litten.“


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mare No. 108

No. 108Februar / März 2015

Von Win Schumacher

Dass Kinderbuchfiguren nie nur Fantasiegespinste sind, lernte Win Schumacher in der Südsee. Auf einer Insel des Bismarck-Archipels vor Neuguinea strandete er unverhofft in Taka-Tuka-Land und traf den Neffen von Pippi Langstrumpf. In Feuerland fehlte von den Nachfahren von Jim Knopf hingegen jede Spur. Schumacher, Jahrgang 1978, lebt als Autor und Lektor des DAAD an der Universität Haifa in Tel Aviv.

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Vita Dass Kinderbuchfiguren nie nur Fantasiegespinste sind, lernte Win Schumacher in der Südsee. Auf einer Insel des Bismarck-Archipels vor Neuguinea strandete er unverhofft in Taka-Tuka-Land und traf den Neffen von Pippi Langstrumpf. In Feuerland fehlte von den Nachfahren von Jim Knopf hingegen jede Spur. Schumacher, Jahrgang 1978, lebt als Autor und Lektor des DAAD an der Universität Haifa in Tel Aviv.
Person Von Win Schumacher
Vita Dass Kinderbuchfiguren nie nur Fantasiegespinste sind, lernte Win Schumacher in der Südsee. Auf einer Insel des Bismarck-Archipels vor Neuguinea strandete er unverhofft in Taka-Tuka-Land und traf den Neffen von Pippi Langstrumpf. In Feuerland fehlte von den Nachfahren von Jim Knopf hingegen jede Spur. Schumacher, Jahrgang 1978, lebt als Autor und Lektor des DAAD an der Universität Haifa in Tel Aviv.
Person Von Win Schumacher