Der Ingenieur und das Meer

Wie der Autokonstrukteur und Industrielle Louis Renault im Ärmekanal ein altes Fort zu seinem Refugium verwandelte

Beinahe hätte der Junge sich und den Beamten mit seinem selbst gezimmerten Kahn in der ­Seine versenkt. Der Prüfer von der Pariser Zulassungsstelle für den Schiffsverkehr soll entscheiden, ob „Le Gigolo“ fahrtüchtig ist – das Boot mit Dampfkesselantrieb, das der zwölfjährige Louis Renault gebaut hat. Mit ihm fahren sie nun, der junge Tüftler und der Ingenieur von der Behörde, als die Wellen eines passierenden Dampfers das Boot fluten. Der Prüfer befiehlt ­Louis, schleunigst ans Ufer zurückzukehren. „Le Gigolo“ fällt durch. Doch zu scheitern kommt für diesen Jungen nicht infrage. Er erhöht die Bordwand und erhält im zweiten Anlauf die Zulassung. So bleibt Louis Renault sein Leben lang: zielorientiert, fast besessen von seinen Ideen. 

In der Schule ist er, so klagt sein Vater Alfred einmal, „ein Esel. Er lernt nichts, es wird nie etwas aus ihm werden. Er interessiert sich nur für Mechanik“. Die studiert der Autodidakt ­Louis Renault, geboren am 12. Februar 1877, in einem Schuppen im Garten der Eltern im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt. In der Hauptstadt betreibt der Vater eine Knopffabrik. Wie seine beiden Brüder Marcel und Fernand soll auch Louis dort einmal eine kaufmännische Laufbahn einschlagen. Doch er, der Einzelgänger, schweißt und schraubt am liebsten in seiner Werkstatt und feilt an größeren Plänen. Später wird er neben Autos auch Antriebe für Flugzeuge, Traktoren und im Ersten Weltkrieg einen Panzer entwerfen. Und manchmal arbeitet er auch an Booten, auf Chausey, der Hauptinsel eines kleinen Archipels im Ärmel­kanal, der er bis zu seinem Tod 1944 eng verbunden bleibt.

Dabei habe Louis Renault „gar keinen Sinn für das Meer gehabt“, sagt Jean-Michel Thévenin. „Das Segeln und Navigieren überließ er seinen Kapitänen. Lieber ist er unter Deck gegangen, um dort etwas zu reparieren.“ Thévenin, 67, ein Mann mit kräftigen Händen und sonnengegerbtem Gesicht, ist auf Chausey aufgewachsen. Er hat dort als Fischer gearbeitet, später als Inge­nieur auf Ölplattformen in aller Welt. Sein Großvater hielt für Louis Renault die Boote in Schuss, und Jean-Michel Thévenin brachte Christiane Renault, der Witwe des Autobauers, oft die Milch vom Bauernhof. Bis sie es 1976 an die Familie Henriet verkaufte, kam sie jeden August zur Sommerfrische ins Château Renault auf der Westseite der Insel.

Christiane verdankt Louis Renault sein liebstes Refugium, in dem er in den 1920ern viele Sommertage verbringt. Neben seinem Haus in der Pariser Avenue du Bois de Boulogne besitzt er seit 1906, keine zehn Jahre, nachdem er als 22-Jähriger mit seinen Brüdern die Automobilfabrik Société Renault Frères gegründet hat, ein Herrenhaus mit Ländereien im normannischen Herqueville. 1928 kommt eine Villa an der Côte d’Azur hinzu. Doch keines dieser Anwesen bietet ihm diese Weltabgewandtheit des Chausey-Archipels, rund 17 Seemeilen entfernt von Dinard, dem Seebad, in dem Christianes Eltern eine Sommerresidenz haben. 

Von Chausey, gelegen vor der Bucht von Mont-Saint-Michel, kann man bei klarem Wetter den berühmten Klosterberg im Süden erkennen. Wie ein kleiner Haufen, den ein Wattwurm hinterlassen hat, wirkt er hier am Horizont. Gebaut wurde die Abtei aus dem Granit, den Arbeiter im Mittelalter aus den Steinbrüchen der Chausey-Inseln holten. An die 600 Steinhauer lebten im Archipel, dazu kamen Arbeiter, die Blasentang von den Felsen ernteten und daraus Soda für Glasfabriken auf dem Festland gewannen. Beides ist zu Renaults Zeiten nicht mehr ren­tabel. Es wohnen kaum 100 Menschen, allesamt Fischer, auf Chausey, als er den Namen der Insel 1918 zum ersten Mal hört. 

Renault trifft an einem Vormittag im Juli 1918 in Dinard ein, um Christiane einen Heiratsantrag zu machen. Er verpasst sie knapp. Die Herrschaften seien bis zum späten Abend auf Chausey, bedauert ein Angestellter. Renault hat die 23-jährige Chris­tiane Boullaire erst zwei Monate vorher bei einer Partie Tennis kennengelernt. Doch er hat niemals Zeit zu verlieren, besonders jetzt, da er mit 41 Jahren einer der reichsten und mächtigsten Männer Frankreichs ist, aber noch keinen Erben für sein Firmenimperium mit mehr als 20 000 Mitarbeitern hat. 

Den ganzen Tag hat er auf ihre Rückkehr gewartet. Und dabei zum ersten Mal den gewaltigen Kräften zugesehen, die das Meer hier hat. Der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser ist im bretonischen Dinard fast so groß wie in der benachbarten Bucht von Mont-Saint-Michel, wo mit 14 Metern der größte Tidenhub Europas herrscht. Die Geschwindigkeit, mit der das Wasser auf- und abläuft und die Landschaft verändert, beeindruckt Renault, er ist mit seiner Yacht „Chryséis“ bislang nur auf Flüssen unterwegs gewesen. Noch stärker wirkt das Naturschauspiel auf ihn ohne das Hintergrundrauschen des mondänen Seebads Dinard in der Einsamkeit des Chausey-Archipels. 


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mare No. 162

mare No. 162Februar / März 2024

Von Silvia Tyburski

Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, war überrascht zu erfahren, dass Renault meist mit dem Rad zur Arbeit fuhr und er für den Transport seiner Arbeiter Elektrbuse einsetzte. Zur vertiefenden Lektüre empfiehlt sie das Buch „Louis Renault et Chausey“ von Jean-Michel Thévenin, Éditions Aquarelles, Canisy, 2013.

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Vita Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, war überrascht zu erfahren, dass Renault meist mit dem Rad zur Arbeit fuhr und er für den Transport seiner Arbeiter Elektrbuse einsetzte. Zur vertiefenden Lektüre empfiehlt sie das Buch „Louis Renault et Chausey“ von Jean-Michel Thévenin, Éditions Aquarelles, Canisy, 2013.
Person Von Silvia Tyburski
Vita Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, war überrascht zu erfahren, dass Renault meist mit dem Rad zur Arbeit fuhr und er für den Transport seiner Arbeiter Elektrbuse einsetzte. Zur vertiefenden Lektüre empfiehlt sie das Buch „Louis Renault et Chausey“ von Jean-Michel Thévenin, Éditions Aquarelles, Canisy, 2013.
Person Von Silvia Tyburski