Der Held, der keiner sein durfte

Der britische Mathematiker Alan Turing knackte die Verschlüsselungscodes der Wehrmacht und verhalf so den Alliierten zum Sieg über Nazideutschland. Gedankt haben es ihm die Briten nicht

Der Orden kam mit der Post. „Für Gott und das Empire“ steht eingeprägt rund um König Georges V. Konterfei. Der Empfänger, der Mathematiker Alan Turing, bewahrte ihn fortan in einer Dose mit Schrauben auf. Dass er den Orden in eine alte Blechdose steckte, hatte weniger damit zu tun, dass er sich vom britischen Staat nicht genügend gewürdigt fühlte. Sondern mehr damit, dass ihm Status und Prestige gleichgültig waren. Begeistern konnte er sich für neue Erkenntnisse, für Erfindungen und Experimente.

Bis Mitte der 1970er-Jahre wurde unter Verschluss gehalten, dass Turing während des Zweiten Weltkriegs als Kryptoanalytiker die deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma geknackt hatte, mit der die Funksprüche der Wehrmacht chiffriert wurden. Dank Turing gelang den Alliierten 1943 die Wende im U-Boot-Krieg – der einzigen Bedrohung, die ihm in diesen Jahren wirklich Angst gemacht habe, sagte Premier Churchill später. Doch dieses Wissen wurde auch nach 1945 noch jahrzehntelang streng geheim gehalten – für den Fall, dass es einen neuen Krieg geben würde. Turings Leistung wurde so unauffällig wie möglich honoriert: mit einem Orden niederen Ranges.

Am 23. Juni 1912 wird Alan Mathison Turing als Sohn eines Kolonialbeamten in die obere Mittelklasse geboren. Schon früh stellt sich heraus, dass er in Mathematik begabt ist. Mit 14 leitet er ein mathematisches Gesetz her, von dem er noch nicht weiß, dass es bereits entdeckt wurde, denn es gehört noch nicht zum Stoff seines Jahrgangs.

An der Schule hat er den Ruf eines Sonderlings, einer, der lieber auf dem Spielfeld den Gänseblümchen beim Wachsen zusehe, als sich mit den anderen Jungen beim Rugby oder Hockey zu messen. Erst als sich der 15-jährige Turing mit einem Mitschüler anfreundet, lebt er auf. Christopher Morcrom interessiert sich genauso für Naturwissenschaften wie er, mit ihm kann er über Einsteins Relativitätstheorie sprechen. Christopher ist blond, schmal, gut aussehend und Turings erste Liebe. Doch Morcrom erwidert sie nicht, für ihn ist der ein Jahr Jüngere ein Freund. Turing dagegen bewahrt die Briefe, die sie sich in den Ferien schreiben, bis ans Lebensende auf. Kurz vor Beginn seines Studiums stirbt der geliebte Freund an Tuberkulose. Alan schreibt in einem Brief an die Eltern: „Ich bin sicher, dass ich Morcrom eines Tages wiederbegegnen werde, und dann werden wir wieder zusammenarbeiten, wie wir es in diesem Leben hätten tun sollen. Ich werde mich anstrengen, als wäre er noch da. Wenn ich mich anstrenge, werde ich seine Gegenwart mehr verdienen als jetzt.“

Er strengt sich an. Und erhält 1931 einen Platz für ein Mathematikstudium in Cambridge. Dass er hier studiert, ist sein Glück. An der Universität hat sich eine Kultur entwickelt, in der man über Homosexualität, deren Praxis in Großbritannien bis 1967 unter Strafe steht, hinwegsieht. Vielleicht auch, weil einige einflussreiche Absolventen schwul oder bisexuell waren, darunter der Ökonom John Maynard Keynes, Schriftsteller wie E. M. Forster und andere Mitglieder der intellektuellen Bloomsbury-Gruppe.

Eine glückliche Fügung ist Turings Mathematikstudium in Cambridge auch, weil es ihn zur wichtigsten Anstellung seines Lebens führt. Als ein Krieg 1938 immer wahrscheinlicher wird, rekrutiert die Government Code and Cypher School, die Chiffrierstelle des Außenministeriums, hier zivile Mitarbeiter. Darunter sind 30 „Männer des Professorentyps“, wie der Direktor Alastair Denniston einmal in einem Brief schreibt. In Bletchley Park, einem Herrenhaus, 70 Kilometer von London entfernt, sollen sie dem Militär helfen, die abgefangenen Funksprüche der Wehrmacht zu entschlüsseln. Turing ist einer von ihnen; ein Professor am King’s College, wo er inzwischen lehrt, hat ihn empfohlen. Als Leiter der „Baracke 8“, zuständig für den Funkverkehr der deutschen Marine, beschäftigt er sich mit einer Erfindung, die den Briten größte Schwierigkeiten bereitet: die Verschlüsselungsmaschine Enigma (siehe Kästen nächste Doppelseite).

Enigma codiert Nachrichten so, dass für jede einzelne rechnerisch eine astronomische Zahl von Schlüsseln infrage kommt – es sind Trilliarden. Um damit fertigzuwerden, bauen die Kryptoanalytiker um Turing auf der Arbeit polnischer Mathematiker auf, die ein einfaches Enigma-Modell bereits 1932 geknackt hatten. Turing erfindet eine strombetriebene Maschine, die für jede Nachricht alle möglichen Enigma-Einstellungen durchspielt und so die langwierige Detektivarbeit mechanisiert: die „Turing-Bombe“. Sie überragt ihren Erfinder und ist gut zwei Meter breit, enthält 16 Kilometer Kabel und schaltet 36 Enigmas hintereinander.

Turing lässt sich von Enigmas Ruf, unfehlbar zu sein, nicht beeindrucken. Schon als Kind habe er sich nie durch andere von seinen Überzeugungen abbringen lassen, schrieb Sara Turing 1959 in ihrer Biografie über ihren Sohn. Weil er auch eine andere Art zu denken hat als andere, arbeitet er am liebsten allein, er gilt als ungesellig. Doch dank ihr sieht Turing Lösungswege, die anderen verschlossen bleiben. In einer Winternacht 1939 schafft er es, bestimmte Muster in der Verschlüsselungsweise einiger Nachrichten zu erkennen und darauf aufbauend das Konzept für seine Maschine zu ersinnen. Das genaue Datum seines Durchbruchs kennt heute niemand mehr, doch Turing-Biograf Jack Copeland ist sicher: „Zweifellos war dies eine der entscheidenden Nächte des Krieges.“


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mare No. 128

Juni / Juli 2018

Von Silvia Tyburski

Silvia Tyburski,, Jahrgang 1976, hatte Mathematik nach der zwölften Klasse abgewählt und wurde dann im Volkswirtschaftsstudium eiskalt von Differentialgleichungen im „Analysis“-Kurs erwischt. Noch heute träumt sie manchmal, dass sie das Diplom nicht bekommt, weil sie die Mathematikklausur noch schreiben muss.

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Vita Silvia Tyburski,, Jahrgang 1976, hatte Mathematik nach der zwölften Klasse abgewählt und wurde dann im Volkswirtschaftsstudium eiskalt von Differentialgleichungen im „Analysis“-Kurs erwischt. Noch heute träumt sie manchmal, dass sie das Diplom nicht bekommt, weil sie die Mathematikklausur noch schreiben muss.
Person Von Silvia Tyburski
Vita Silvia Tyburski,, Jahrgang 1976, hatte Mathematik nach der zwölften Klasse abgewählt und wurde dann im Volkswirtschaftsstudium eiskalt von Differentialgleichungen im „Analysis“-Kurs erwischt. Noch heute träumt sie manchmal, dass sie das Diplom nicht bekommt, weil sie die Mathematikklausur noch schreiben muss.
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