Der große Aufbruch

Um 1900 erfasste im Deutschen Reich eine Fortschrittseuphorie nicht nur die Marine, sondern nahezu jeden Lebensbereich – ausgerechnet in dem von erzkonservativem Geist geprägten Land

Im Juni 1895 stieg an Nord- und Ostsee die größte maritime Party des ausgehenden Jahrhunderts. Drei Tage lang feierte das Deutsche Reich die Fertigstellung des Kaiser-Wilhelm-Kanals. An Bord der Yacht „Hohenzollern“ fuhr der Kaiser persönlich in Begleitung des russischen Zaren durch die neue Wasserstraße von Brunsbüttel nach Kiel. Dabei gab es für den Korso aus 23 Schiffen mehrere Festessen, ein Kaffeekränzchen auf einer künstlichen Insel und etliche Paraden. Der Brite Birt Acres verewigte das mehr als 1,7 Millionen Reichsmark kostende Eröffnungsspektakel auf dem ersten deutschen Stummfilm. 

Gefeiert wurde ein Wunderwerk der Meerestechnik. Der neue Nord-Ostsee-Kanal war 98 Kilometer lang, 67 Meter breit und neun Meter tief. Die Bauzeit betrug lediglich acht Jahre. In Spitzenzeiten waren bis zu 9000 Arbeiter im Einsatz. Etliche davon kamen aus dem europäischen Ausland. Die Arbeitsbedingungen waren vergleichsweise gut. Sonn- und Feiertage waren frei. Nachtarbeit musste gesondert genehmigt werden. Drohten Lohnkürzungen, wehrten sich die Arbeiter mit Streik. Gewohnt wurde in großen Baracken mit modernen Großküchen. Es gab sogar einen Betriebsarzt, der verhinderte, dass wie noch 1892 in Hamburg die Cholera ausbrach. Allerdings kam es zu rund 6000 teils schweren Arbeitsunfällen. 60 Menschen starben. 

Bauherrin war die Kaiserliche Kanalkommission, die später unter dem neuen Namen Reichskanalamt auch den Betrieb regelte. Die steuerfinanzierten Baukosten von 156 Millionen Goldmark überwachte der Reichstag. Ziel der Großinvestition war es, der deutschen Militär- und Handelsflotte zu ermöglichen, von der Ost- in die Nordsee zu gelangen, ohne heimische Hoheitsgewässer verlassen zu müssen. 

Die Öffentlichkeit begleitete Bau und Inbetriebnahme des Prestigeprojekts mit regem Interesse. Zahlreiche Vereinigungen gründeten sich, vom Kanalbauverein bis zum Verein der Kanalsteurer. Auch eine eigene „Kanal-Zeitung“ entstand. Nach der Fertigstellung siedelte sich schnell Industrie an. Als der Kanal für die nächste Schiffs­generation zu klein wurde, baute man ihn zwischen 1907 und 1914 kurzerhand aus. 

Diese Geschichte ist typisch für die Zeit um 1900. Der technologische Fortschritt, die Vermischung wirtschaftlicher und militärischer Motive, die Stilisierung zu einer nationalen Prestigefrage, die Entscheidungshoheit des Reichs gegenüber den Ländern, die zentrale Rolle der Monarchie und die finanzielle Kontrolle des ­Parlaments, die verbesserten Arbeitsbedingungen, die neue Umtriebigkeit der Zivilgesellschaft: In all dem manifestierte sich der – wie es die angesehene deutsche Historikerin Hedwig Richter formuliert – „Aufbruch in die Moderne“, den Wilhelms Reich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte. 

Insofern war der Kanal weit mehr als nur ein Wasserweg. Er war Durchfahrtsstraße in eine neue Zeit. 

Was hatte es mit diesem Aufbruch auf sich? Wie konnte es in einem Reich, in dem eine konservative Pickelhaubenelite den Ton angab, überhaupt dazu kommen? Und was waren die Hauptmerkmale dieses Modernisierungsschubs? 

Zwischen 1880 und 1914 brachen sich zahlreiche Kräfte Bahn, die im alten Haus des monarchischen Obrigkeitsstaats ein Zeitalter der Reform und Massenpolitisierung einläuteten. Ausgerechnet die konservativen Eliten spielten dabei eine Schlüsselrolle. Nicht, weil sie an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit glaubten. Aber sie erkannten: Erfolgversprechender, als sich gegen den „Strom der Zeit“ zu stemmen, war es, wie Bismarck meinte, einem „Bootsmann“ gleich die Fließrichtung auszunutzen, das Staatsschiff geschickt durch die tosenden Wogen zu steuern und dabei so viel Kontrolle wie möglich zu behalten. So verschrieben sich viele Konservative und Bürgerliche der Reform. Die Liberalen und Sozialdemokraten taten das ohnehin. 


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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Oliver Haardt

Oliver Haardt, Jahrgang 1988, ist Autor und Historiker an der Mosel und in Hampshire, England. Die Kaiserzeit fasziniert ihn, seit er als Kind das Denkmal ­Wilhelms I. am Deutschen Eck sah. Wie modern es ­damals zuging, begriff er erst, als seine Dozenten in Cambridge Queen Victorias behäbiges London mit Wilhelms II. quirligem Berlin verglichen. Seither lässt ihn der „Aufbruch in die Moderne“ nicht mehr los.

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Vita Oliver Haardt, Jahrgang 1988, ist Autor und Historiker an der Mosel und in Hampshire, England. Die Kaiserzeit fasziniert ihn, seit er als Kind das Denkmal ­Wilhelms I. am Deutschen Eck sah. Wie modern es ­damals zuging, begriff er erst, als seine Dozenten in Cambridge Queen Victorias behäbiges London mit Wilhelms II. quirligem Berlin verglichen. Seither lässt ihn der „Aufbruch in die Moderne“ nicht mehr los.
Person Von Oliver Haardt
Vita Oliver Haardt, Jahrgang 1988, ist Autor und Historiker an der Mosel und in Hampshire, England. Die Kaiserzeit fasziniert ihn, seit er als Kind das Denkmal ­Wilhelms I. am Deutschen Eck sah. Wie modern es ­damals zuging, begriff er erst, als seine Dozenten in Cambridge Queen Victorias behäbiges London mit Wilhelms II. quirligem Berlin verglichen. Seither lässt ihn der „Aufbruch in die Moderne“ nicht mehr los.
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