Der grosse Aderlass

Das blaue Blut des Pfeilschwanzkrebses ist hochgeschätzt, weil lebens­rettend. Als Marker für tödliche Bakterien in Infusionen und Impfseren wird seine Blutspende zum Milliardengeschäft

Wenn im Mai bei Voll- und Neumond die Flut ihren Höhepunkt erreicht, vollzieht sich an der amerikanischen Ostküste ein Jahrmillionen altes Naturschauspiel: der Paarungszug der Pfeilschwanzkrebse. Wie kleine Panzerwagen kriechen diese inklusive ihres Schwanzstachels bis zu 60 Zentimeter langen Tiere dann aus den Wellen. Schon im Meer hat sich auf dem Rücken jedes Weibchens eines der kleineren Männchen festgekrallt, das Paar wird aber meist noch von weiteren Männchen an den Strand eskortiert. Wenn das Weibchen eines seiner zahlreichen Gelege am oberen Rand der Brandungszone im Sand vergräbt, haben auch die Spermien der anderen die Chance, einige der rund 4000 winzigen, grünlichen Eier zu befruchten.

Pfeilschwanzkrebse bewohnen das Schelfmeer der gesamten nordamerikanischen Ostküste von Mexiko bis Kanada, wo sie von Muscheln und anderen Wirbellosen leben. Doch das Epizentrum der Population ist Delaware Bay, der Mündungstrichter des Delaware River zwischen den US-Bundesstaaten Delaware und New Jersey, wo die Brandungszone im Frühjahr oft komplett von den grauen Chitinpanzern der Tiere bedeckt ist. Es ist der perfekte Ort, ihrer habhaft zu werden.

Und so geschieht es dann auch: Spezialisierte Sammler mit Gummihandschuhen waten durch die Brandung, ziehen die liebestollen Krebse zu Hunderten aus dem Wasser und bringen sie in klinisch saubere Labors von Biotechunternehmen. Dort sticht man den Tieren dicke Injektionsnadeln durch die Verbindung von Vorder- und Hinterleib. Man hat es auf ihr blaues Blut abgesehen. Panzer an Panzer hängen sie dann da, fixiert und mit Nadeln im Körper, verdonnert zu einer Massenblutspende im Dienste der Menschheit.

Tatsächlich ist das Blut des Limulus polyphemus, so der wissenschaftliche Name des Atlantischen Pfeilschwanzkrebses, ein ganz besonderer Saft. Zum einen wegen des kupferhaltigen Blutfarbstoffs Hämozyanin, der das Blut himmelblau leuchten lässt. Doch das ist nicht das Entscheidende. Der Grund, warum wir die Flüssigkeit so begehren, ist die Tatsache, dass sie Menschenleben rettet. Das blaue Blut der Krebse erlaubt es nämlich, bakterielle Verunreinigungen in Impfstoffen, Infusionen und an medizinischen Geräten nachzuweisen. Präziser formuliert: Das Krebsblut dient als Rohstoff für Limulus-Amöbozyten-Lysat (LAL), mit dessen Hilfe sich selbst geringste bakterielle Rückstände in intravenös verabreichten Medikamenten und Impfstoffen exakt messen lassen. Dafür sind LAL-Tests heute der Goldstandard – und das Blut der Tiere wertvoll wie Gold für eine Industrie, die damit im Jahr geschätzte 500 Millionen Dollar umsetzt.

Doch der Reihe nach. Die Anfänge des großen Aderlasses gehen zurück bis in die Sommer der Jahre 1954 und 1955. Im Marine Biological Laboratory in Woods Hole im US-Bundesstaat Massachusetts experimentierte Frederick Bang, Professor für Pathobiologie an der Johns Hopkins University, mit Pfeilschwanzkrebsen. Er wollte herausfinden, mit welchen Mitteln die Tiere, denen das komplexe Immunsystem der Wirbeltiere fehlt, Infektionen durch die millionenfach im Meerwasser wuselnden Bakterien abwehren.

In langen Versuchsreihen, in denen er am benachbarten Strand eingesammelten Tieren Bakteriensuspensionen injizierte, stellte Bang Erstaunliches fest: Das Blut der Tiere geronn beim Kontakt mit den Mikroben innerhalb von Minuten zu einem festen und im Labor über Wochen hinweg stabilen Gel. „Es ist zu vermuten, dass dies ein wichtiger Schutzmechanismus gegen bakterielle Infektionen ist“, schrieb Bang. Und er hatte recht: Wunden werden so im Schnellverfahren verschlossen, bereits eingedrungene Bakterien bleiben bewegungslos in dem Glibber stecken und können sich nicht weiter ausbreiten.

Hätte Bang nur den Abwehrmechanismus von Limulus gegen eindringende Bakterien entdeckt, so hätte das außer einigen Meeresbiologen wohl kaum jemanden interessiert. Doch das blaue Blut reagierte nicht nur auf lebende Bakterien, sondern auch auf ein abgekochtes Extrakt bakterieller Giftstoffe mit Gelbildung. Diese sogenannten Endotoxine sind hoch stabile Bestandteile der Zellwand von Mikroben aus der Klasse der gramnegativen Bakterien, zu der viele Krankheitserreger gehören. Auch nach dem Ableben ihrer Urheber durch Hitze oder Desinfektionsmittel können schon geringste Mengen verbliebenen Endotoxins heftiges Fieber und andere, mitunter lebensbedrohliche Immunreaktionen auslösen.


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mare No. 111

No. 111August / September 2015

Von Georg Rüschemeyer und Timothy Fadek

Georg Ruschenmeyer, geboren 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, ist den Pfeilschwanzkrebsen äußerst dankbar. Er hat in seinem Leben schon etliche Impfungen und Infusionen bekommen.

Timothy Fadek, Jahrgang 1965, aus New York, vergaß beim Fotografieren der Pfeilschwanzkrebse an der Küste Connecticuts einmal vor lauter Eifer die Flut. Zum Glück schaffte er es noch rechtzeitig an Land.

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Vita Georg Ruschenmeyer, geboren 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, ist den Pfeilschwanzkrebsen äußerst dankbar. Er hat in seinem Leben schon etliche Impfungen und Infusionen bekommen.

Timothy Fadek, Jahrgang 1965, aus New York, vergaß beim Fotografieren der Pfeilschwanzkrebse an der Küste Connecticuts einmal vor lauter Eifer die Flut. Zum Glück schaffte er es noch rechtzeitig an Land.
Person Von Georg Rüschemeyer und Timothy Fadek
Vita Georg Ruschenmeyer, geboren 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, ist den Pfeilschwanzkrebsen äußerst dankbar. Er hat in seinem Leben schon etliche Impfungen und Infusionen bekommen.

Timothy Fadek, Jahrgang 1965, aus New York, vergaß beim Fotografieren der Pfeilschwanzkrebse an der Küste Connecticuts einmal vor lauter Eifer die Flut. Zum Glück schaffte er es noch rechtzeitig an Land.
Person Von Georg Rüschemeyer und Timothy Fadek