Der Fluss der Frauen

Die harte Muschelfischerei im Po-Delta ist überwiegend eine Sache der Frauen. Bei allem Selbstbewusstsein denken sie aber nicht ­daran, darüber ihre traditionelle Geschlechterrolle aufzugeben

Nebel liegt wie ein seidenes Tuch über dem noch schlafenden Po-Delta, einem Unesco-Biosphärenreservat etwa 70 Kilometer südlich von Venedig. Es ist erst kurz nach halb sieben am Morgen, doch Giovanna Pizzo steht in ihren Fischerhosen bereits knietief im Wasser. Mit der rasca, einer über eine Pumpe maschinell betriebenen und mit einem Fischernetz verbundenen ­Harke, gräbt die 1,80 Meter große Frau im schlammigen Boden des Feuchtgebiets nach grau-weiß gestreiften Weichtieren, die ihre Unabhängigkeit bedeuten – den vongole verace, Venusmuscheln. 

Ihre fünf Jahre ältere und gut 20 Zentimeter kleinere Kollegin Oscarina Soncin kümmert sich währenddessen auf dem Fischerboot um die Feinarbeit. Sie trennt die Beute mit einem Sieb. Jene Muscheln, die durch die 16 Millimeter breiten Rillen fallen, sind zu klein für den Verkauf. 

Zusammen mit Krebsen, Austern und Fischen wirft sie sie zurück ins Wasser. Die anderen füllt Oscarina zu je zehn Kilogramm in blaue Säcke. Die beiden Frauen tragen Schutzanzüge aus Neopren, dar­über warme Jacken. Kapuzen ver­stecken Giovannas dunkle Locken und Oscarinas blondes Haar. Die Anstrengung zeichnet ihre ungeschminkten Gesichter. 

Am Tag darauf ist Oscarina kaum wiederzuerkennen. Sie hat ihr Arbeitsgewand durch auf den Schmuck abgestimmte Kleidung getauscht, trägt Wimperntusche, blauen Kajal, Lippenstift. Die Fingernägel, während der Arbeit in Handschuhen verborgen, sind in einem zarten Rosa lackiert. Nur ihre Haare seien ruiniert, jammert sie, der Regen, das Salzwasser, der Wind hätten ihnen heute morgen besonders arg zugesetzt. Deshalb sitzt sie nun im Fri­seursalon unweit ihres Zuhauses. Sie wohnt in Porto Tolle, flächenmäßig eine der größten Gemeinden Italiens, die aber nur 9500 Einwohner hat. Wie jeden Monat lässt sich Oscarina die Haare waschen, föhnen und die Farbe auf­frischen, Goldblond Nummer 83.

„Die Fischerinnen machen sich durch ihre Arbeit die Haare kaputt“, sagt die Friseurin und wirft einen strengen Blick auf Oscarinas Kopf. Über ihr hängt ein Bild von Marilyn Monroe, „so möchte ich aussehen“, sagt sie und lacht. Schönheit hat bei den Muschelfischerinnen wie bei fast  allen italienischen Frauen einen hohen Stellenwert. Giovanna schwört auf Körpercreme und Parfum von Victoria’s Secret. Oscarina geht alle drei Wochen zur Kosmetikerin, von der sie sich ihre Augenbrauen zupfen und die Nägel maniküren lässt. Jetzt zieht sie ihren Lippenstift nach. „Es ist in Ordnung, dass ich den Job eines Mannes mache“, sagt sie. „Aber ich möchte mich auch weiblich fühlen.“

Am Nachmittag bei Barbara Tesserin, Muschelfischerin seit gut 30 Jahren. „Diese Arbeit ist ein wahrer Segen für uns Frauen“, sagt sie, während sie die Haare ihrer 84 Jahre alten Mutter wäscht. Die Frau, früher selbst Fischerin, muss beim Gehen gehalten werden und hat Mühe zu sprechen. Sie habe auch einen Sohn, aber ohne ihre Töchter wäre sie auf sich gestellt, erzählt sie. „Das Muschelfischen erlaubt uns, zusätzlich den Haushalt zu erledigen, die Kinder zu betreuen und unsere Eltern zu pflegen“, sagt Barbara und kämmt die nassen Haare ihrer ­Mutter. Seit zwölf Stunden ist sie auf den Beinen, hat mit ihren Söhnen und der Schwester gefischt. Sie wirkt müde.

Muschelfischerinnen wie Oscarina, Giovanna und Barbara sind die stillen Heldinnen des Po-Deltas, und je länger man sie begleitet, desto mehr wird klar, dass sie sich dessen gar nicht bewusst sind. Feminismus ist ein Wort, das hier verpönt ist. Wie an den meisten Orten in Italien wird es gleichgesetzt mit Männerhass. 


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 158. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 158

mare No. 158Juni / Juli 2023

Von Barbara Bachmann und Chiara Negrello

Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Reporterin aus Südtirol, war beeindruckt von der Stärke und Standhaftigkeit der Muschelfischerinnen. Sie hätte sie gern schon früher kennengelernt, um sie für ihr 2021 erschienenes Buch „Hure oder Heilige. Frau sein in Italien“ zu interviewen.

Chiara Negrello, geboren 1995, Fotografin im italienischen Rovigo, wohnte während der Recherche bei Oscarina und Giovanna. „Es fühlte sich an, als wäre ich bei meiner eigenen Familie.“

Mehr Informationen
Vita

Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Reporterin aus Südtirol, war beeindruckt von der Stärke und Standhaftigkeit der Muschelfischerinnen. Sie hätte sie gern schon früher kennengelernt, um sie für ihr 2021 erschienenes Buch „Hure oder Heilige. Frau sein in Italien“ zu interviewen.

Chiara Negrello, geboren 1995, Fotografin im italienischen Rovigo, wohnte während der Recherche bei Oscarina und Giovanna. „Es fühlte sich an, als wäre ich bei meiner eigenen Familie.“

Person Von Barbara Bachmann und Chiara Negrello
Vita

Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Reporterin aus Südtirol, war beeindruckt von der Stärke und Standhaftigkeit der Muschelfischerinnen. Sie hätte sie gern schon früher kennengelernt, um sie für ihr 2021 erschienenes Buch „Hure oder Heilige. Frau sein in Italien“ zu interviewen.

Chiara Negrello, geboren 1995, Fotografin im italienischen Rovigo, wohnte während der Recherche bei Oscarina und Giovanna. „Es fühlte sich an, als wäre ich bei meiner eigenen Familie.“

Person Von Barbara Bachmann und Chiara Negrello