Der Fluchthelfer von Marseille

Ein Gerechter unter den Völkern: Varian Fry führte im Zweiten Weltkrieg ein Netzwerk, das 2000 Juden und Regimegegner vor der Verfolgung durch Nazis aus Südfrankreich rettete

Alles sieht nach einer geglückten Flucht vor der Gestapo aus: Die vier Männer sind aus dem südfranzösischen Internierungslager Vernet entkommen, wo das Vichyregime Kommunisten, Gewerkschafter, ausländische Juden und andere „unerwünschte Personen“ festhält. Amerikanische Fluchthelfer haben den Kapitän der Yacht „Bouline“ überzeugt, die politisch Verfolgten Franz Bögler, Siegfried Pfeffer, Hans Tittel und Fritz Lamm auf seiner Fahrt von Marseille nach Gibraltar mitzunehmen, um sie aus Frank­reich herauszubringen. Und obwohl der Marseiller Hafen von Soldaten des Vichyregimes bewacht wird, schaffen sie es, in dieser Herbstnacht 1940 auszulaufen – die Fluchthelfer haben den Soldaten einen Besuch im Bordell spendiert. Doch nach etwa 24 Stunden erfasst ein Sturm die „Bouline“, die Segel reißen, Wasser dringt ein. Der Kapitän beschließt umzukehren. Kein Appell der vier Männer, die dann verloren wären, hilft. Die Seeleute werden von der Küstenwache in Empfang genommen, die Flüchtenden verhaftet.

Es sind Momente wie diese, die Varian Fry, der solche Befreiungsaktionen für die amerikanische Flüchtlingshilfsorganisa­tion Emergency Rescue Committee in Mar­seille organisiert, immer wieder den Schlaf rauben. Frankreich, vor Kurzem noch Exil für in Deutschland verfemte Künstler und Andersdenkende aus ganz Europa, ist für diese fast über Nacht zur Falle geworden. Das Waffenstillstands­abkommen mit den Nationalsozialisten vom 22. Juni 1940 verpflichtet die französische Polizei, „alle in Frankreich […] befindlichen Deutschen auf Verlangen auszuliefern“. Wer erst einmal in einem Internierungslager wie Vernet sitzt, ist in Gefahr, später nach Auschwitz oder in ein anderes Kon­zen­tra­tions­lager verlegt zu werden.

Der 32-jährige Journalist Fry ist wenige Wochen nach der Kapitulation Frankreichs nach Marseille gekommen, der Hafenstadt im südlichen, noch unbesetzten Teil des Landes, in der jetzt viele Verzweifelte hoffen, irgendwie in das politisch neutrale Lissabon und von dort weiter nach Amerika zu gelangen. Als Fry im August 1940 eintrifft, sind es fast 200 000 – beinahe ein Drittel so viele, wie Groß-Marseille damals Einwohner hat. Frys Auftraggeber ist das Emergency Rescue Committee (ERC), eine Gruppe von Schriftstellern, Journalisten, Professoren, Philanthropen und deutschen Exilan­ten in den USA, die zunächst vor allem französischen Künstlern zur Flucht verhelfen wollen, später auch Politikern und Autoren, die sich gegen Hitler gestellt haben. Ihnen soll Fry, der seine Schleuserarbeit als allgemeine humanitäre Hilfe tarnt, Unterkünfte, medizinische Hilfe, Visa und Transportmöglichkeiten besorgen. Denn Geld allein – mehr als 3000 Dollar kommen bei einem Spendenlunch des ERC am 25. Juni 1940 zusammen – reicht nicht, wie Thomas Manns Tochter Erika Mann bei diesem Gebertreffen sagt. „Sie können nicht einfach ein Schiff besteigen und losfahren. Wir brauchen dort jemanden, der sie herausbringt.“ Weil die Hilfsorganisation niemanden findet, der die Mission vor Ort führen will, ist Fry ins Flugzeug nach Eu­ro­pa gestiegen, „aus lauter Ungeduld wegen dieser Verzögerung“, wie er später sagt. An einem Bein hat er mit Klebeband das Geld und ein Stück Papier befestigt: eine geheime Liste mit mehr als 200 Namen von Männern und Frauen, denen er bei der Flucht helfen soll. Vier Wochen Urlaub hat er genommen, dann will das ERC einen neuen ­Leiter nach Marseille entsenden und Fry zu seiner Frau, der Journalistin Eileen Hughes, zurückschicken. 

Freunde hatten ihm davon abgeraten, schließlich kann er auch als Amerikaner durch seine Arbeit gegen die Gestapo in Gefahr geraten. Fry – Brille, hohe Stirn, stets tadellos mit Anzug und Krawatte gekleidet – ist Harvardabsolvent und beherrscht neben Latein und Griechisch auch noch ausgezeichnet Französisch und ein wenig Deutsch. Mit Dokumentenfälschern, Gangstern, Bordellbesitzern und Schwarzmarkthändlern hatte er bislang nie zu tun. Doch Fry ist einer, der schon als Schüler Ungerechtigkeit nicht ertragen konnte. Mehrmals musste er die Schule wechseln, einmal, weil er sich weigerte, sich wie seine Mitschüler von der Abschlussklasse schikanieren zu lassen, nur weil es „Tradition“ sei. Jetzt hat er noch andere Gründe, diesen schwierigen Job zu übernehmen.

Unter den Menschen, die in Frankreich festsitzen, sind auch viele Künstler und Schriftsteller, die er selbst bewundert. „Einigen fühlte ich mich, obwohl ich sie nur durch ihre Arbeiten kannte, persönlich tief verbunden; und allen schuldete ich Dank für die Freude, die sie mir mit ihrer Kunst gemacht hatten“, schreibt er in seinem Buch „Auslieferung auf Verlangen“. Vor allem aber hat er schon 1935 als Berliner Korrespondent mit eigenen Augen gesehen, wie jüdische Geschäfte demoliert wurden, wie Schläger „jüdische Caféhausbesucher von den Stühlen rissen, […] einen alten Mann zu Boden warfen und ihm ins Gesicht tra­ten. Nachdem solche Zustände auch auf Frank­reich übergegriffen hatten, konnte ich nicht untätig zusehen, solange es auch nur die kleinste Chance gab, wenigstens einige der Gefährdetsten zu retten“.

Aber wer sind diese am meisten Gefährdeten? Der Direktor des ­Museum of Modern Art, Alfred H. Barr, hat ihm Namen bildender Künstler wie Marc Chagall und Max Ernst aufgeschrieben. Thomas Mann, selbst vor den Faschisten in die USA geflohen, nennt die von Schriftstellern, darunter sein Bruder Heinrich. Andere Komiteemitglieder ergänzen die Liste um Journalisten, Wissenschaftler
und Politiker. Willkommen sind die Flüchtenden in den USA, das sich noch immer nicht von der großen Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre erholt hat, allerdings nicht. Denn obwohl viele US-Organisationen in Marseille und Lissabon Hilfe leisten, halten sich das Gros der US-Politiker und auch das für Einwanderung zu­stän­dige Außenministerium zurück. 


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mare No. 163

mare No. 163April / Mai 2024

Von Silvia Tyburski

Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, leiht sich viele der Bücher für ihre Recherchen an der Hamburger Universitätsbibliothek aus, benannt nach einem von den Nationalsozialisten Verfolgten: Carl von Ossietzky.

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Vita Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, leiht sich viele der Bücher für ihre Recherchen an der Hamburger Universitätsbibliothek aus, benannt nach einem von den Nationalsozialisten Verfolgten: Carl von Ossietzky.
Person Von Silvia Tyburski
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